Offener Brief von Dr. Christoph Engelhardt an die Bahn

Ursula Eickhoff, Pressesprecherin Baden-Württemberg, Deutsche Bahn
Wolfgang Dietrich, Projektsprecher Bahnprojekt Stuttgart-Ulm

Sehr geehrte Frau Eickhoff,

mit Interesse habe ich die Mitteilungen der Bahn verfolgt betreffend meiner in der Eisenbahn-Revue International erschienenen Veröffentlichung zur Leistungsfähigkeit von Stuttgart 21.

Die dpa veröffentlichte am 03.06.2011 einen Text mit der Aussage: „Die Bahn hatte die Berechnungen als «haltlos» zurückgewiesen.“ Die Rückfrage bei der dpa ergab, dass diese Aussage von Ihnen stammt. Die weiteren Begründungen dazu in dem dpa-Beitrag stammten offenbar aus der Pressemitteilung auf der Projekt-Homepage vom 01.06.2011 (siehe unten). Die dpa-Meldung erschien in unzähligen Medien (z.B. Stuttgarter Zeitung).

Sie sind sich selbstverständlich der rechtlichen Relevanz von öffentlichen Äußerungen bewusst, die das Ansehen einer Person betreffen. Deshalb bin ich mir sicher, dass Sie die folgenden Fragen zufriedenstellend klären können.

  • Meine Arbeit enthält nur wenige Berechnungen, etwa 4 × 8 = 32 oder 4 × 10 = 40 oder andere elementare Algebra, deren Ergebnisse auch nach sorgfältiger Prüfung nicht als „haltlos“ erscheinen.
  • Vielmehr scheinen Sie als „haltlos“ anzusehen, dass ich den Maximalwert großer deutscher Bahnhöfe von (im Bahnhofsdurchschnitt) rund 4 Zügen pro Gleis und Stunde als Ausgangspunkt nehme für eine Abschätzung der Leistungsgrenze für Stuttgart.
    Hier bin ich auch auf Gegenwind von Seiten der Kritiker von Stuttgart 21 gefasst, die argumentieren könnten, dass die Bahnhöfe in diesem Leistungsbereich mit vielen Doppelbelegungen schon „unter Stress“ stehen. Dieser Kritik halte ich stand, da die Abschätzung ja nur eine Obergrenze liefern soll.
  • Mutmaßlich geht Ihre Kritik aber in die andere Richtung, dass Sie die Anwendung des Maximalwerts als „haltlos“ ansehen, in dem Sinne, dass Sie mehr erwarten. Damit sind wir bei der zentralen Fragestellung meines Artikels.Aus meinem Blick auf die Praxis, beispielsweise auch bei anderen Bahnhofsneubauten, finde ich keinen „Anhalt“, mit der Leistungserwartung über das heutige Maximum wesentlich hinauszugehen. Vielmehr scheint die geplante Leistung für Stuttgart 21 gewissermaßen „haltlos“ weit über der Realität zu schweben. – Meine Frage ist: Was ist der Leistungsturbo von Stuttgart 21?Ich fordere die Bahn also hiermit heraus, nachvollziehbar argumentativ (nicht allein mit dem intransparenten Stresstest) darzulegen mit welchen betriebs- und 1 / 3fahrplantechnischen Maßnahmen der Leistungszuwachs auf die 49 Züge pro Stunde des Stresstests und die 60 Züge nach Ausbau der Zulaufstrecken (entsprechend 6,1 und 7,5 Zügen pro Gleis und Stunde, also 40 % bis 80 % über den heutigen Maximalwerten) bewerkstelligt wird, – bei guter Betriebsqualität.Das ließe sich ja grob aufschlüsseln: +x % ETCS, +x % moderne Weichensituation, –x % Bahnsteiggleisgefälle, –x % Engpässe … In kaufmännischen oder strategischen Betrachtungen nennt man eine solche Darstellung eine Überleitung. Vielleicht eine Übung, die die Ergebnisse des Stresstests verständlicher macht und die Potenziale zur Behebung der Überlastungen in den Bahnhöfen der Spitzengruppe deutlich macht.
  • Ich verstehe, dass Sie nicht mit mir einer Meinung sein müssen. Wo Sie aber meiner Arbeit vorwerfen „haltlos“ zu sein, also unbegründet oder aus der Luft gegriffen, müssen Sie im Einzelnen Ihren Vorwurf als „erweisbar wahr“ belegen, anhand meiner Arbeit. Man kann mir kaum vorwerfen, dass mein Versuch der Plausibilisierung der S21-Planung durch den Blick auf die Realität von Deutschlands Bahnhöfen vollkommen unbegründet ist.

Sehr geehrter Herr Dietrich,

in Ihrer Pressemitteilung vom 01.06.2011 kritisieren Sie meine Arbeit. Erlauben Sie, dass ich zu den einzelnen Punkten Stellung nehme.

  • Den Punkt, ob ich „in der Branche“ bekannt bin und ob „Manöver verfolgt“ werden, können wir gewiss schnell abhaken. Ich bin kein Verkehrswissenschaftler, ich bin promovierter Physiker, der lange Jahre als Analyst in der Konzernstrategie eines Dax-Konzerns arbeitete (Sie können hier Parallelen zum Werdegang von Dr. Rüdiger Grube erkennen). Dort lernt man, Planungen auf Vergleichswerte aus der Praxis zu beziehen und sich das Delta nachvollziehbar erklären zu lassen.
  • Mich haben die unzähligen Unaufrichtigkeiten in den Schlichtungsgesprächen auf der Befürworterseite bewegt, diese Untersuchung zu erstellen. Sie erinnern sich, Schlichter Dr. Heiner Geißler hatte zu Aufklärung und selbstständigem Denken aufgerufen.
  • Sie bezeichnen unverständlicherweise die Arbeit als „theoretische Betrachtungen“, obwohl vielmehr ein Vergleich mit der Praxis vorgenommen wird. Was daran theoretisch ist, bitte ich Sie mir zu erklären.
  • Lassen Sie mich eines richtig stellen – die Eisenbahner können da sehr pingelig sein: Ich habe nicht die „Kapazitäten verschiedener Bahnhöfe“ sondern die „erbrachte Leistung“ verglichen. Die Bahnhöfe, die hier Maximalwerte erreichen und nach einhelliger Ansicht an der Leistungsgrenze operieren, und überdies vergleichbar groß sind wie Stuttgart 21, markieren meiner Ansicht nach – das ist die These meiner Arbeit – eine Leistungsgrenze aus Praxissicht. Hier kann man in die Argumentation einsteigen und darlegen, was Stuttgart 21 so viel besser macht und um wie viel.
  • Ich stelle fest, dass Sie zu meinem in der Arbeit ausführlich begründeten Vorwurf, die Bahn habe ihre Glaubwürdigkeit hinsichtlich von Aussagen oder Untersuchungen der Leistungsfähigkeit von Stuttgart 21 massiv beschädigt, keine Stellung beziehen. Muss ich das als Eingeständnis auffassen?
  • Ich stelle fest, dass Sie bis heute die von mir aus den DB-Fahrplänen ermittelten Leistungskennwerte nicht in Zweifel zogen oder unter den Vorbehalt einer Prüfung stellten. Ich vermutete schon, dass solche Auswertungen bei der Bahn bereits vorlagen, was der schnellen Überprüfung mutmaßlich förderlich war.
  • Sie argumentieren, alle Bahnhöfe seien verschieden. In meiner Arbeit wird nichts anderes behauptet (und das sogar in gleicher Weise wie von Ihnen mit den unterschiedlichen betrieblichen Bedingungen und Fahrplankonzepten begründet). Der Punkt meiner Arbeit ist, dass laut den Planungen ein einziger Bahnhof in Deutschland in Zukunft sehr viel verschiedener sein soll: Stuttgart 21, mit einer Leistung 40 % bis 80 % über den heute maximal erreichten Leistungswerten von Bahnhöfen, die am Limit operieren. Ein Leistungswunder, das vielleicht nur noch nicht gebührend als solches gewürdigt wurde.
  • Dieser Leistungssprung erscheint so lange als „theoretisch“, als er nur durch intransparente Computersimulationen oder mit Modellrechnungen basierend auf unrealistischen Eingangsgrößen begründet wird. Insofern verweise ich auf meine oben getätigte Anregung, den „Leistungsturbo“ von Stuttgart 21 im Lichte der Praxis nachvollziehbar zu begründen.

Hochachtungsvoll,
Christoph Engelhardt
(Physiker, Analyst)

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2 Antworten zu Offener Brief von Dr. Christoph Engelhardt an die Bahn

  1. Prof. Stefan Faiß sagt:

    Entscheidend ist doch, wie viele Züge an einem Gleis pro Stunde abgefertigt werden können. Hier gibt es viele Bahnhöfe in Deutschland, die mehr als 4 Züge pro Gleis abwickeln, z.B. Köln, Berlin, Berlin Spandau etc.. Am Bahnhof Esslingen am Neckar werden beispielsweise auf Gleis 8 zwischen 16 und 17 Uhr 7 Züge abgewickelt. Der Stresstest wird letztlich Aufschluss über die Leistungsfähigkeit von S 21 bringen.

    • D.M. sagt:

      In Esslingen fahren auf Gleis 8 nur S-Bahnen und Regionalzüge in eine Richtung, das ist nicht vergleichbar (ein extremes Beispiel: durch die S-Bahn-Station S-Hbf unten fahren bis zu 24 Züge pro Stunde und Gleis, aber auch diesen Wert kann man logischerweise nicht übertragen). Auf Ihre anderen Beispiele geht der Autor im Artikel ein. Wie z. B. vom Autor dargestellt und in der Praxis regelmäßig erlebbar, ist die Betriebsqualität des Hbf Köln (4,1 Züge pro Stunde und Gleis) eine Zumutung. Dieser Flaschenhals wirkt sich zudem negativ auf die Pünktlichkeit von Zügen in ganz Deutschland aus. Deswegen sollte ja der Deutzer Bahnhof ausgebaut werden, um den Hbf zu entlasten – bis das Vorhaben vor einer Weile mangels Budget auf Eis gelegt wurde. Das wäre mal ein sinnvolles Projekt gewesen. Den Kölner Hbf als Vorbild zu nehmen, hieße dem Bahnverkehr in ganz Deutschland noch mehr zu schaden. Ganz abgesehen davon, dass S21, um die 49 Züge zu erreichen, nicht 4,1, sondern 6,1 Züge pro Stunde bewältigen müsste, ein bislang nicht einmal annähernd erreichter Wert.

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