Rede von Walter Sittler bei Montagsdemo am 27.06.2011

Liebe Freunde eines vernünftigen Nah- und Fernverkehrs, liebe Freunde unseres denkmalgeschützten Kopfbahnhofes!

Sehr lange, viel zu lange, war ich nicht mehr in Stuttgart, fast zwei Monate. Ich habe die Ereignisse in dieser Zeit täglich aus der Ferne verfolgt und ich bin stolz Teil so vieler Menschen sein zu dürfen, die sich Woche für Woche, Monat für Monat mit so viel Kraft, Durchhaltevermögen und Phantasie friedlich für eine vernünftige Politik einsetzen.

Im Mai hat die neue grünrote Landesregierung ihre Arbeit aufgenommen. Der größere Koalitionspartner will das unsinnige Projekt S21 stoppen und kann es nicht alleine, weil der kleinere Koalitionspartner dabei zwar mitmachen könnte, es aber nicht will. Die Koalitionspolitiker in Berlin, sowie die leitenden Angestellten der Bahn und auch unser Oberbürgermeister haben deutlich gemacht, dass sie alles dransetzen werden dieses Projekt durchzudrücken, unabhängig von ungeklärten Gefahren, von schlechter Planung oder nicht vorhandener Genehmigungen. Es bleibt also nur die Bürgerschaft von Stuttgart, die Bürgerschaft von Baden-Württemberg um das Verschleudern von Steuergeldern, die Zerstörung eines Kulturdenkmals und die Behinderung des Bahnverkehrs auf alle Zeiten in Stuttgart durch S21, den neuen Herzinfarkt Europas,  zu verhindern.

Unsere Verfassung, in diesem Punkt noch unvollkommen und veränderungsbedürftig, gibt uns betroffenen Bürgern keine ausreichende Möglichkeit in die Hand, im Wege direkter Demokratie über ein solch unnötiges Projekt mit zu entscheiden. Ein Mittel allerdings stellt die Verfassung zur Verfügung, um unseren gewählten Vertretern unseren Willen zwischen den Wahlen kundzutun: das ist die Demonstration, die friedliche Demonstration der Bürgerinnen und Bürger auf der Straße. Und deswegen werden wir weiter auf die Straße gehen, gehen müssen, zu Tausenden, zu Zehntausenden, lieber noch zu Hunderttausenden. Dieses Mittel ist aber nur wirksam, wenn wir unter allen Umständen friedlich bleiben, wie wir es bisher immer waren, denn das macht unsere Kraft aus.

Ich verstehe sehr gut, wenn jemand aus Zorn, aus Empörung und verständlicher Hilflosigkeit die Faust ballen möchte. Die Verunglimpfungen, die Demütigungen, das Ausgeliefertsein an arrogante Mächtige geben allen Anlass dazu. Ballt die Fäuste, ballt sie so oft ihr wollt, so oft es notwendig ist, aber lasst sie in der Tasche. Wenn wir die Hände wieder herausnehmen müssen sei offen sein. Und wenn es trotzdem mal ein bisschen ruppig zugeht, nunja, wir sind schließlich keine Heiligen und müssen es auch nicht sein, ebenso wenig wir unser Gegenüber.

Man kann aber Gewalt nicht mit Gewalt beenden, sondern nur mit unbedingter Friedfertigkeit, mit Respekt gegenüber dem Anderen, seiner Meinung und auch gegenüber dem Eigentum Anderer. So und nur so werden wir die wunderbare Unwiderstehlichkeit, die unbändige Phantasie, die überwältigende Vielfältigkeit unseres Protestes weiter tragen, der unser Markenzeichen war, unser Markenzeichen ist und bleiben wird, durch den wir, man kann das ruhig so sagen, weit über Deutschland hinaus bekannt geworden sind und der vielen Menschen Mut gemacht hat.  Ziviler Ungehorsam in jeder Form gegen unsinnige, schädliche Projekte ist legitim, wenn er ohne Gewalt auskommt, weder gegen Personen noch gegen Dinge. Wenn einer von uns die Geduld verliert und zuschlagen will, müssen wir ihn beruhigen, wie bisher auch. Wenn jemand uns provozieren und zu Gewalt verleiten will, müssen wir dem widerstehen, egal wie verführerisch es sein mag endlich mal zurückzuschlagen, endlich auch mal das zu tun, was uns ständig angetan wird. Wir wissen, was wir wollen und deswegen benutzen keine Gewalt, brauchen keine Gewalt, sondern Argumente, Überzeugungskraft und Wissen.

Wir haben viele Mittel uns deutlich auszudrücken: wir haben den Schwabenstreich, wir können die Stadt mit grünen Bändern schmücken, wir können Denkmäler und Bäume verhüllen, um zu zeigen was passiert, wenn sie nicht mehr da sind, wenn  eine Stadt gedankenlos verschandelt wird, wir können friedlich Plätze besetzen und auch Zäune versetzen – ohne irgend etwas zu zerstören. Lasst uns all diese Dinge tun, wenn es sein muss, der Phantasie sind da keine Grenzen gesetzt. Eines allerdings können wir nicht und wollen wir auch nicht: Bäume versetzen. Die sollen bleiben, wo sie sind.

Die Würde des Menschen ist unantastbar und wenn unsere Gegner uns dieses Grundrecht absprechen wollen, uns als Radikale abstempeln wollen, einfach nur, weil wir nicht ihrer Meinung sind, so setzen sie sich ins Unrecht, nicht uns.

Wir haben einen langen, schwierigen, vielleicht entscheidenden Sommer vor uns. Lasst uns alle unsere ganze Kraft, unsere Phantasie und unseren Mut zusammennehmen, dann schaffen wir es, dann werden wir: Oben bleiben!

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