Offener Brief von Egon Hopfenzitz an Prof. Heimerl

Herr Hopfenzitz hat im Zusammenhang mit dem unsäglichen Interview des Herrn Heimerl in den Stuttgarter Nachrichten vom 16.Juli 2011 an diesen wichtigen Brief geschrieben, der verbreitet werden sollte:

Egon Hopfenzitz (ehem. langjähriger Leiter der Oberzugleitung bei der Bundesbahndirektion Stuttgart)

Egon Hopfenzitz - Foto©PetraWeiberg

Egon Hopfenzitz
Kriegerstraße 12
70191 Stuttgart
Tel u Fax: 0711 — 2265919
eMail: egon.hopfenzitz[ät]t-online.de

 

Herrn
Prof. Dr. Gerhard Heimerl
Kirchheimerstraße 4A
70619 Stuttgart

Sehr geehrter Herr Dr. Heimerl,

Sie haben den Stuttgarter Nachrichten ein längeres Interview gegeben, ein Zeichen daß es Ihnen wieder besser geht. Ich freue mich darüber, gibt es mir doch auch die Möglichkeit Ihnen dazu als Hauptbahnhof-Praktiker eine sachliche Antwort zu geben.

Die Simulation hat offenbar den Stresstest bestanden, die Bahn jedoch nicht die Glaubwürdigkeit zu seriösen Dateneingaben. Warum hat die Bahn die Gegner nicht von Anfang an bei den Eingaben beteiligt, wie dies Dr. Geißler gefordert hat? Hatte sie etwas zu verbergen? Weder die Bahn noch Sie haben diese Frage je beantwortet.

Sie haben, wenn auch erst für die ferne Zukunft, die Erweiterung des Tiefbahnhofs um 2 weitere Gleise angeregt. Daß dies nie zu realisieren ist wissen Sie selbst. Der Tiefbahnhof bleibt ein Immobilienprojekt. Wer wird denn 4,1 — 7 Mrd. € für einen Zeitgewinn von nur 3 Minuten bezahlen? Weder für Herrn Dürr noch für die Herren Mehdorn, Grube und Schuster waren diese 3 Minuten entscheidend. Gelockt hat die Immobilie und der Gewinn aus bekanntlich 23 sogenannten „21-Projekten“ und nur eines wird realisiert, leider das in Stuttgart.

Nun zu einer Behauptung, die so immer wieder vom Kommunikationsbüro und nun erneut von Ihnen zu hören ist: Im Kopfbahnhof müsse ein Zug das Gleisvorfeld immer zweimal durchfahren. Diese Aussage suggeriert, dies sei im Durchgangsbahnhof nicht erforderlich. Auch in einem Durchgangsbahnhof muß bei allen möglichen Zugfahrten zuerst die Einfahrstraße und ggf. nach dem Halt die Ausfahrstraße befahren werden, somit auch 2 Gleisvorfelder. Auch der Kopfbahnhof weicht von dieser Regel nach dem Richtungswechsel nicht ab. Wo ist hier ein Unterschied zu erkennen? Sollte die Zahl der befahrenen Weichen hier entscheidend sein so darf ich auf die nachfolgende Zusammenstellung verweisen:

Kopfbahnhof
– Zahl der Weichen (ohne Kreuzungen)
– bei Einfahrt von Feuerbach
nach Gleis 16 = 4 Weichen ab Zwischensignal
nach Gleis 15 = 4 Weichen
nach Gleis 14 = 6 Weichen

– bei der Ausfahrt nach Cannstatt
aus Gleis 16 = 4 Weichen
aus Gleis 15 = 4 Weichen
aus Gleis 14 = 6 Weichen Summe 28 Weichen

Tiefbahnhof
– Zahl der Weichen (ohne Kreuzungen)
– bei Einfahrt von Feuerbach
nach Gleis 1 = 3 Weichen
nach Gleis 3 = 6 Weichen
nach Gleis 4 = 6 Weichen

– bei der Ausfahrt nach Flughafen
aus Gleis 1 = 4 Weichen
aus Gleis 3 = 4 Weichen
aus Gleis 4 = 5 Weichen Summe 28 Weichen

Die Summe der durchfahrenden Weichen beträgt bei beiden Bahnhöfen 28 Weichen.
Für den Kopfbahnhof spricht zusätzlich die ebene Lage der Bahnsteige gegenüber der Neigung im Tiefbahnhof von 15 ‰ sowie die Steigung zum Flughafen von 31 ‰.

Ich setze weiter voraus daß Ihnen bekannt ist, daß im Tunnelgebirge derzeit nicht in 2 sondern in 3 Ebenen gefahren wird (Kellergeschoß von Cannstatt, Parterre nach Cannstatt und Abstellbahnhof, 1. Obergeschoß von Feuerbach).

Die von Ihnen angenommene langjährige Behinderung bei der Optimierung des Kopfbahnhofs wird nicht größer sein als das derzeitig geplante Vorschieben der 16 Bahnsteiggleise zur Herstellung der Baugrube mit der nur dort möglichen Gefährdung von Grundwasser und Mineralwasser, die es beim Kopfbahnhof nie geben wird.

Zur Kostenfrage sagen Sie, die Bahn habe bis 2005 seriöse Zahlen vorgelegt. Es spricht für Ihre Ehrlichkeit, daß Sie die Zeit ab 2005 ausgeblendet haben.

Einen Punkt haben Sie wohl aus gutem Grund nicht angeschnitten, den in den Stresstestunterlagen Seite 26 veröffentlichten Fahrplan/Gleisbelegungsplan.
Ich habe während einer 22jährigen Tätigkeit als Leiter von 3 Bahnhöfen (Vaihingen (Enz) Nord, Untertürkheim, Stuttgart Hbf) bei ca. 44 Fahrplanwechsel die praktische Durchführung von Zügen im Hinblick auf Sicherheit, Pünktlichkeit und Durchführbarkeit der Gleisbelegung verantwortet. Für den Tiefbahnhof halte ich während des Berufsverkehrs mit starkem Reisendenwechsel Aufenthalte von 1 Minute (1 Fall), 2 Minuten (5 Fälle) und 3 Minuten (11 Fälle) zusammen Stunde 7 = 35 % aller Züge, für den einzukalkulierenden Abbau von Verspätungen nicht für ausreichend. Nicht durchzustehen sind Zugbelegungen in Bahnsteiggleisen in Abständen von 3, 4 und 5 Minuten (30 % aller Züge). So folgen sich im Tiefbahnhof Gleis 4 in der Zeit von 7.21 Uhr bis 7.37 Uhr (= 16 Minuten) 3 IC/ICE mit je 3 Minuten Aufenthalt und im Abstand von nur je 3 Minuten. Ein Verspätungsabbau wird hier illusorisch, das Gegenteil wird eintreten.

Die vielgepriesene Möglichkeit, 2 Züge hintereinander im Bahnsteiggleis aufnehmen zu können wird nicht zur Beschleunigung der Zugabfertigung und zum Verspätungsabbau beitragen. Der gesamte Fahrplan im Tiefbahnhof weist in Stunde sieben 36 Einzelaufstellungen und 13 Doppelbelegungen auf. Im Kopfbahnhof, der auf den meisten Bahnsteiggleisen über die gleiche signaltechnischen Möglichkeiten verfügt, finden während 24 Stunden nur 6 Doppelbelegungen statt.

Bei Verspätungen, Unfällen und Betriebsstörungen auch in der S-Bahn wird eine kundenfreundliche Disposition mit richtiger Steuerung der Züge und der Reisendenströme im barrierebehafteten Tiefbahnhof kaum mehr möglich sein. Beim Liegenbleiben z.B. des vorderen Zuges (Lokschaden, Wagenschaden, Signalstörungen u.a.) ist das Nachfahren des 2. Zuges ausgeschlossen. Es bleibt nur das Umsetzen in ein anderes Bahnsteiggleis oder das Wenden des 2. Zuges mit Umleitung oder Nutzung des Kreisverkehrs über Cannstatt. Beide Möglichkeiten erfordern einen Führerstandwechsel mit Bremsprobe, der aber nach meinem Kenntnisstand vom EBA im geneigten Tiefbahnhof nicht zugelassen wurde. Auch der Kreisverkehr bietet nur beschränkte Möglichkeiten zur Umleitung. So könnte z.B. der 2. Zug im Gleis 1 bei nicht möglicher Ausfahrt in Richtung Flughafen wenden und über Cannstatt — Plochingen nach Tübingen oder Ulm fahren, jedoch ohne Halt am Flughafen. Eine Umleitung der Gäubahnzüge über Plochingen — Tübingen — Rottenburg — Horb verhindert die nicht elektrifizierte Strecke Tübingen — Horb. Das Ansetzen einer Diesellok bereits im Tiefbahnhof ist nicht gestattet.

Was ich hier beschrieben habe ist keine theoretische Fachsimpelei sondern entspringt meinen Erfahrungen nicht nur in der Disposition im Kopfbahnhof sondern auch meiner langjährigen Erfahrung als Leiter der Oberzugleitung bei der Bundesbahndirektion Stuttgart (heute Betriebsleitung in Karlsruhe) mit direktionsweiter Disposition bei allen Arten von Unfällen, Betriebsstörungen oder Verspätungen. Kurzum, die Fahrplangruppe des Kopfbahnhofs hätte nie einen solchen Gleisbelegungsplan erstellt und ich hätte diesen als Leiter des Hautbahnhofs auch nie genehmigt.

Abschließen darf ich dieses Schreiben mit den gemachten Erfahrungen zusammen mit einem Fernsehteam des SWR zur Überprüfung der Halte von Fernverkehrszügen im Kopfbahnhof am Freitag 8. Juli (beenden). Der Zuglauf war erheblich verspätet. Ein ICE war später 110 Minuten, 1 ICE später 20 Minuten und Wochenendverkehr mit vielen Reisenden. Der verspätete ICE benötigte 8 Minuten Aufenthalt durch Warten auf Reisende und eine unbekannte Ursache, ein EC erhielt 3 Minuten Zusatzverspätung durch Einladen eines Rollstuhlfahrers mit dem Hebegerät. Ein turbulenter Reisetag, der mit der großen Zahl verfügbarer Bahnsteiggleise ohne Änderung der Gleisbelegung nur im Kopfbahnhof so möglich war. Die verfügbare Bahnsteigfläche ermöglichte das Warten vieler Reisenden auf 2 und 3 nachfolgende Züge.

Lieber Herr Dr. Heimerl, nicht nur das wissenschaftliche Aufarbeiten der Fragen Haltezeiten und Leistungsfähigkeit eines Bahnhofs bringt glaubhafter Aussagen über die Akzeptanz des Systems Eisenbahn bei den Reisenden, unseren Kunden. Auch die Kenntnis über den realen Ablauf eines Fahrplantages mit seinen vielen Erfahrungen vor Ort bringt unersetzbare Erfahrungen mit sich.

Ihnen alles Gute für die Zukunft und auch den Wunsch zum
gesundheitlichen Obenbleiben

Ihr
Egon Hopfenzitz

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