{"id":4949,"date":"2011-05-17T14:35:23","date_gmt":"2011-05-18T01:35:23","guid":{"rendered":"http:\/\/barrierefrei.gegen-stuttgart-21.de\/?p=4949"},"modified":"2011-05-18T16:43:48","modified_gmt":"2011-05-19T03:43:48","slug":"uber-den-unsinn-von-quoren-in-volksentscheiden","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/barrierefrei.gegen-stuttgart-21.de\/2011\/05\/17\/uber-den-unsinn-von-quoren-in-volksentscheiden\/","title":{"rendered":"\u00dcber den Unsinn von Quoren in Volksentscheiden"},"content":{"rendered":"

Der Begriff Quorum<\/a> (Plural: Quoren) bezeichnet allgemein eine vorgeschriebene Mindestbeteiligung oder Mindestzustimmung, die f\u00fcr eine politische Entscheidung vorausgesetzt wird. In der Demokratie hat sich das Mehrheitsprinzip durchgesetzt und bew\u00e4hrt: In demokratischen Gremien wie Parlamenten gen\u00fcgt allgemein die einfache Mehrheit, bei grundlegenden Entscheidungen wie Verfassungs\u00e4nderungen auch eine qualifizierte Mehrheiten von z. B. zwei Dritteln oder drei Vierteln der Stimmberechtigten. Auch die Anzahl der Unterschriften, die f\u00fcr eine Volksinitiative oder ein Volksbegehren mindestens gesammelt werden muss, wird als Quorum bezeichnet.<\/p>\n

Das Mehrheitsprinzip gilt vollkommen zu Recht auch in Volksentscheiden. Allerdings hat sich in Deutschland eingeb\u00fcrgert, bei direkten Entscheidungen des Volkes noch ein weiteres Quorum festzulegen. Erst wenn dieses Quorum erf\u00fcllt ist, kommt das Mehrheitsprinzip zur Anwendung. Dies ist generell abzulehnen, denn zwei Quoren in einer Abstimmung verzerren in jedem Fall das Abstimmungsergebnis; in den meisten F\u00e4llen kehren sie es sogar um. Extrem formuliert dienen solche Quoren einem legalisierten und institutionalisierten Abstimmungsbetrug, der in Deutschland leider \u00fcblich ist.<\/p>\n

Quoren sind ein mathematischer Trick, um Enthaltungen als Gegenstimmen zu werten.<\/strong>
\nIn der Logik gibt es drei M\u00f6glichkeiten, eine Frage zu beantworten: positiv, negativ oder neutral. In Abstimmungen hie\u00dfe es Ja, Nein oder Enthaltung. Diese drei Antwortm\u00f6glichkeiten sind strikt zu trennen, denn sie bedeuten weder in der Logik noch in der Politik dasselbe. Alles andere w\u00fcrde das Abstimmungsergebnis verzerren. Quoren tun aber genau dies: B\u00fcrgern, die sich enthalten haben, wird durch das Quorum unterstellt, dass sie mit Nein gestimmt h\u00e4tten, wenn sie sich an der Abstimmung beteiligt h\u00e4tten. Ihre Stimmen werden quasi der Gegenseite zugeschlagen, solange das Quorum nicht erreicht ist. Dies ist ein deutlicher Versto\u00df gegen die Regeln der Logik und Demokratie, denn wer sich enth\u00e4lt, verh\u00e4lt sich neutral und \u00fcberl\u00e4sst die Entscheidung denen, die sich an der Abstimmung beteiligen.<\/p>\n

Man stelle sich vor, welche Emp\u00f6rung es hervorrufen w\u00fcrde, wenn der Spitzenkandidat einer Partei im Interview am Wahlabend sagen w\u00fcrde: \u201eMir passt die geringe Wahlbeteiligung nicht. Ich finde, man sollte die Stimmen der B\u00fcrger, die sich enthalten haben, meiner Partei zuschlagen.\u201c Diese Forderung w\u00fcrde zu recht als v\u00f6lliger Unsinn abgetan \u2013 aber genau dieser Unsinn wird bei Quoren nicht nur hingenommen, sondern gilt sogar vielen B\u00fcrgern als notwendig, ohne dass dies hinterfragt wird.<\/p>\n

Quoren bevormunden B\u00fcrger.<\/strong>
\nDurch das Quorum wird zum einen den B\u00fcrgern, die sich enthalten haben, unterstellt, dass sie in der Abstimmung dagegen gestimmt h\u00e4tten, wenn sie sich beteiligt h\u00e4tten. Zum anderen wird die Mehrheit solange zur Minderheit erkl\u00e4rt, solange das Quorum nicht erreicht ist. Beides stellt im Grunde eine Bevormundung der B\u00fcrger durch die Abgeordneten dar, die das Quorum eingef\u00fchrt haben oder nicht bereit sind, es abzuschaffen.<\/p>\n

Quoren widersprechen dem Prinzip der Volkssouver\u00e4nit\u00e4t und werten Stimmen der Abgeordneten h\u00f6her als die der B\u00fcrger.<\/strong>
\nLaut dem Prinzip der Volkssouver\u00e4nit\u00e4t steht das Votum des Volkes \u00fcber dem seiner Vertreter in den Parlamenten und Gemeinder\u00e4ten. Durch Quoren wird dieses Prinzip ausgehebelt. Es wird \u2013 wieder einmal \u2013, eine Mauer gezogen, hinter der das Prinzip der Volkssouver\u00e4nit\u00e4t nicht gilt. Betrachtet man zudem die Wahlergebnisse, stellt man in vielen F\u00e4llen fest, dass die Mehrheiten in den Parlamenten selbst nicht die Anforderung erf\u00fcllen, die durch das Quorum gestellt ist. Beispielsweise gilt f\u00fcr Volksabstimmungen 1\u00a0 in Baden-W\u00fcrttemberg ein Quorum von einem Drittel der Stimmberechtigten. Die Landtagsmehrheit selbst wurde aber von weniger als einem Drittel der Stimmberechtigten gew\u00e4hlt, 2\u00a0 kann aber dennoch alles, was auch durch eine Volksabstimmung m\u00f6glich ist. Dadurch gelten Stimmen der Volksvertreter mehr als die des Volkes selbst \u2013 in einer
\nDemokratie ausgesprochen fragw\u00fcrdig.<\/p>\n

Quoren sind ein Versto\u00df gegen das demokratische Prinzip der Stimmengleichheit.<\/strong>
\nIn der Demokratie besteht der Grundsatz, dass die Stimmen aller B\u00fcrger gleich zu werten sind, unabh\u00e4ngig von Geschlecht, Bildungsstand, religi\u00f6sem Bekenntnis, sexueller Orientierung, Rasse usw. Ausgerechnet bei Volksentscheiden gilt dieser Grundsatz nicht, denn solange das Quorum nicht erreicht ist, werden die Stimmen der Ja- und Nein-Seite unterschiedlich gewertet. Wenn sich in einem Volksentscheid 80 Prozent f\u00fcr einen Vorschlag aussprechen und 20 Prozent dagegen, w\u00e4re das eigentlich eine deutliche Mehrheit f\u00fcr den Vorschlag. Solange aber das Quorum nicht erreicht ist, wird das Abstimmungsergebnis rechnerisch zugunsten der 20 Prozent uminterpretiert. Aus 20 Prozent wird eine Mehrheit.<\/p>\n

Erl\u00e4utert am Beispiel von 20:80 Prozent:<\/p>\n

\"\"<\/a>W\u00e4hrend beim tats\u00e4chlichen Ergebnis die Stimmen von Bef\u00fcrwortern und Gegnern gleich gewertet werden, haben bei dem durch das Quorum uminterpretierten Ergebnis die Stimmen der Bef\u00fcrworter rechnerisch nur noch den Wert von 0,6125 3\u00a0 je Stimme, die Stimmen der Gegner aber den 2,55-fachen Wert 4 . Es liegt auf der Hand, dass die Verzerrung des tats\u00e4chlichen Ergebnisses noch gr\u00f6\u00dfer w\u00e4re, wenn der Anteil der Bef\u00fcrworter gr\u00f6\u00dfer w\u00e4re. Sogar eine Zustimmung von 100 Prozent w\u00fcrde f\u00fcr einen Sieg in der Abstimmung nicht gen\u00fcgen, solange diese 100 Prozent nicht das Quorum erf\u00fcllen.<\/p>\n

————————————–
\n1\u00a0\u00a0 Volksentscheide werden in der Verfassung des Landes Baden-W\u00fcrttemberg \u201eVolksabstimmungen\u201c genannt.
\n2\u00a0\u00a0 Stand laut Landtagswahl 2011: 31 Prozent
\n3\u00a0\u00a0 49 % : 80 % = 0,6125
\n4\u00a0\u00a0 51 % : 20 % = 2,55<\/h6>\n

Quoren benachteiligen eine politische Seite und bevorteilen die andere. Dies trifft vor allem Minderheiten und gemeinn\u00fctzige Vereine und Verb\u00e4nde. <\/strong>
\nDadurch, dass eine Seite in einem Volksentscheid nicht nur die Mehrheit, sondern auch noch das Quorum zu erringen hat, ist sie gegen\u00fcber der anderen Seite benachteiligt. Dies betrifft vor allem Minderheiten und gemeinn\u00fctzige Vereine und Verb\u00e4nde, obwohl sich gerade bei diesen das Spezialwissen ballt; politisches Engagement ist in den letzten Jahren geradezu von den Parteien zu den Nichtregierungsorganisationen abgewandert. Innovative Ideen und Minderheiten k\u00f6nnen so nicht gef\u00f6rdert werden, obwohl gerade dies oft in den Programmen der Parteien versprochen wird.<\/p>\n

Quoren sollen angeblich eine hohe Beteiligung und ein repr\u00e4sentatives Ergebnis gew\u00e4hrleisten, bewirken aber das Gegenteil.<\/strong>
\nQuoren werden damit gerechtfertigt, dass sie mobilisierend wirken und so eine hohe Beteiligung und ein repr\u00e4sentatives Ergebnis gew\u00e4hrleisten. Sie bewirken aber das genaue Gegenteil: W\u00e4hrend die eine Seite das Quorum f\u00fcr unerreichbar h\u00e4lt und dadurch entmutigt wird, an der Abstimmung teilzunehmen, spekuliert die andere Seite sogar darauf, dass das Quorum nicht erreicht wird, und h\u00e4lt es daher nicht f\u00fcr notwendig, an der Abstimmung teilzunehmen. Dieser Effekt ist um so st\u00e4rker, je h\u00f6her das Quorum ist. Bei einem Beteiligungsquorums w\u00e4re es f\u00fcr die Seite der Gegner sogar kontraproduktiv, an der Abstimmung teilzunehmen, weil das Beteiligungsquorum eine bestimmte Gesamtbeteiligung vorschreibt, unabh\u00e4ngig davon, ob f\u00fcr oder gegen den Vorschlag gestimmt wird.
\nDie Gegenseite wird also geradezu gezwungen, die Abstimmung zu boykottieren, damit die erforderliche Gesamtbeteiligung und somit das Quorum nicht erreicht wird. Ein repr\u00e4sentatives Ergebnis kann so nicht zustandekommen \u2013 aber gerade das wird von einer demokratischen Abstimmung erwartet.<\/p>\n

Am h\u00e4ufigsten zu h\u00f6ren ist allerdings das Argument, dass durch ein Zustimmungsquorum die erforderliche Mehrheit unter den abgegebenen Stimmen ansteige, wenn die Beteiligung sinke. <\/strong>
\nBetrage das Quorum beispielsweise 30 Prozent, und 50 Prozent der Stimmberechtigten w\u00fcrden sich an der Abstimmung beteiligen, w\u00e4re eine Mehrheit von 60 Prozent erforderlich; <\/strong>
\nw\u00fcrde die Abstimmungsbeteiligung nur bei 40 Prozent liegen, l\u00e4ge der f\u00fcr das Quorum erforderliche Stimmenanteil sogar bei 75 Prozent usw. Dieses Argument habe ich immer f\u00fcr unsinnig gehalten, denn wie hoch die Mehrheit ist, ist f\u00fcr den Ausgang der Abstimmung nicht von Belang. Das entscheidende ist, dass es sich um die Mehrheit handelt und dass das Quorum erreicht wird, und diese H\u00fcrden liegen im Vorhinein fest.<\/strong>
\nSachlich betrachtet gibt es jedoch nichts, was f\u00fcr ein Quorum in Volksentscheiden spricht.<\/p>\n

Autor: Nico Nissen (Journalist)<\/h6>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Der Begriff Quorum (Plural: Quoren) bezeichnet allgemein eine vorgeschriebene Mindestbeteiligung oder Mindestzustimmung, die f\u00fcr eine politische Entscheidung vorausgesetzt wird. In der Demokratie hat sich das Mehrheitsprinzip durchgesetzt und bew\u00e4hrt: In demokratischen Gremien wie Parlamenten gen\u00fcgt allgemein die einfache Mehrheit, bei … Weiterlesen →<\/span><\/a><\/p>\n","protected":false},"author":2,"featured_media":0,"comment_status":"open","ping_status":"closed","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":[],"categories":[48,843,797,844],"tags":[1145,1779,1736,1780],"_links":{"self":[{"href":"https:\/\/barrierefrei.gegen-stuttgart-21.de\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/4949"}],"collection":[{"href":"https:\/\/barrierefrei.gegen-stuttgart-21.de\/wp-json\/wp\/v2\/posts"}],"about":[{"href":"https:\/\/barrierefrei.gegen-stuttgart-21.de\/wp-json\/wp\/v2\/types\/post"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/barrierefrei.gegen-stuttgart-21.de\/wp-json\/wp\/v2\/users\/2"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/barrierefrei.gegen-stuttgart-21.de\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=4949"}],"version-history":[{"count":18,"href":"https:\/\/barrierefrei.gegen-stuttgart-21.de\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/4949\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":4968,"href":"https:\/\/barrierefrei.gegen-stuttgart-21.de\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/4949\/revisions\/4968"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/barrierefrei.gegen-stuttgart-21.de\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=4949"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/barrierefrei.gegen-stuttgart-21.de\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=4949"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/barrierefrei.gegen-stuttgart-21.de\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=4949"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}