{"id":5470,"date":"2011-06-06T18:12:01","date_gmt":"2011-06-07T05:12:01","guid":{"rendered":"http:\/\/barrierefrei.gegen-stuttgart-21.de\/?p=5470"},"modified":"2011-06-06T18:21:49","modified_gmt":"2011-06-07T05:21:49","slug":"die-rolli-journalistin","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/barrierefrei.gegen-stuttgart-21.de\/2011\/06\/06\/die-rolli-journalistin\/","title":{"rendered":"Die Rolli-Journalistin"},"content":{"rendered":"

Journalisten lieben Selbstversuche \u2013 sei es, dass sie beim Halbmarathon der Stuttgarter Zeitung mitlaufen oder die Stufen des Fernsehturms erklimmen. Einen unfreiwilligen Selbstversuch zum Thema barrierefreies Stuttgart machte auch unsere Redakteurin Michaele Heske<\/em> Anfang des Jahres, als sie auf einer Eisscholle vor der Haust\u00fcre ausrutschte und sich das Bein gleich mehrfach brach.<\/strong><\/p>\n

Bis zu meinem Sturz hatte ich mir wenig Gedanken \u00fcber Einschr\u00e4nkungen gemacht. Nat\u00fcrlich hatte ich stets Mitgef\u00fchl mit dem Nachbarn im Rollstuhl, den ich zun\u00e4chst regelm\u00e4\u00dfig beim \u201eBonus\u201c-Markt an der Kasse traf, sp\u00e4ter dann auch beim Schwabenstreich. Ich half der \u00e4lteren Frau, die sich langsam mit dem Rollator durch die Gegend schob, und nahm ihr die Tragetaschen ab. Gehandicapte Kinder spielten ab und an mit meinem Hund im Park. Ich war also stets hilfsbereit und freundlich \u2013 Verst\u00e4ndnis, aber ohne jegliches Verstehen. Denn ich war gut zu Fu\u00df und das Schicksal hatte mich vor den bekannten biblischen Behinderungen bewahrt.<\/p>\n

\"Gehilfe<\/a>

Gehilfe (Lindenthal\/photocase.com)<\/p><\/div>\n

Vor ein paar Jahren nahm ich an einem Pressetermin am Hauptbahnhof teil. Eine Gruppe k\u00f6rperlich und geistig behinderter junger Menschen wollte demonstrieren, wie schwer es f\u00fcr Rollstuhlfahrer ist, sich in der Innenstadt zurechtzufinden. Das Ergebnis war traurig: Der Aufzug zur Klettpassage streikte just an diesem Tag, die Verk\u00e4uferinnen in den gr\u00f6\u00dferen Gesch\u00e4ften tuschelten, als sich gleich mehrere Rollstuhlfahrer in die schmalen G\u00e4nge dr\u00e4ngten, und die Umkleidekabinen waren zu klein. Der eine oder andere am Schlossplatz machte sich lustig \u00fcber die Lahmen, Blinden und Stummen, andere reagierten sogar aggressiv. Nat\u00fcrlich wurde meine Reportage nie ver\u00f6ffentlicht. Der gemeine Leser liest eben lieber \u00fcber die Sch\u00f6nen und die Reichen.<\/p>\n

Nichtsdestotrotz \u2013 im Januar sa\u00df ich also das erste Mal in einem Rollstuhl. Bis dato wusste ich gar nicht, wie wichtig das Thema Barrierefreiheit ist. Mit dem Rollstuhl dreht man keine Pirouetten. Auch hatte ich das Gef\u00fchl, mein Gef\u00e4hrt h\u00e4tte den Wendekreis eines Lasters. Rollstuhlgerechte Toiletten in den Restaurants waren die Ausnahme. Sp\u00e4ter, als ich mit Gips und Kr\u00fccken durch die Stadt ging, bemerkte ich erstmals, wie viele Treppen es in Stuttgart gibt \u2013 eine gute \u00dcbung zum Aufbau der Muskeln, nur fehlten oft die Gel\u00e4nder neben den Stufen. Egal ob vor der Apotheke oder der BW-Bank: Die Angst, erneut zu fallen, lief stets mit. Der Weg in die S-Bahn-Sch\u00e4chte wurde zum Abenteuer, die Bahnfahrt zu meiner Schwester nach Reutlingen zur Zerrei\u00dfprobe f\u00fcr meine Nerven.<\/p>\n

Sicherlich bin ich keine routinierte Gehandicapte mit jahrelanger Erfahrung \u2013 aber ich habe eine gute Vorstellung davon bekommen, wie eingeschr\u00e4nkt das urbane Leben f\u00fcr Kr\u00fcckenl\u00e4ufer und Rollstuhlfahrer ist. Und dann wird Anfang des 21. Jahrhunderts ein Bahnhof gebaut, der r\u00fccksichtslos alle Gleichstellungsgesetze ignoriert? Dessen Planung weder Behinderte noch \u00e4ltere Mitb\u00fcrger ber\u00fccksichtigt?<\/p>\n

\u201eDass S 21 uns viele sondergenehmigte, risikobeladene Barrieren beschert, ist noch nicht fl\u00e4chendeckend angekommen. Diese zus\u00e4tzlichen K.-o.-Kriterien f\u00fcr den Tiefbahnhof m\u00fcssen bekannter werden\u201c, sagt Cornelia Single von der Initiative Barriere-Frei<\/a>. Und verweist auf die schmalen Bahnsteige, die Aufz\u00fcge aus der Tiefe des neuen Bahnhofs, die im Falle eines Ungl\u00fccks jede Selbstrettung f\u00fcr Rollstuhlfahrer und Rollatorschieber ausschlie\u00dfen. Und weiter: \u201eIm Fokus sollten aber nicht nur die Mobilit\u00e4tseingeschr\u00e4nkten sein, wenngleich diese am st\u00e4rksten betroffen sind.\u201c Denn es gibt viele, denen man ihre Behinderung nicht ansieht: Psychisch Kranke, Geh\u00f6rlose, Schlaganfallpatienten, Diabetiker und viele andere.<\/p>\n

\"Sch\u00f6ne<\/a>

Sch\u00f6ne neue Bahnhofswelt \u2013 Menschen mit Handicap kommen auch in den Fotomontagen der S-21-Planer nicht vor (Visualisierung: Aldinger & Wolf)<\/p><\/div>\n

Und dann sind da ja noch die M\u00fctter mit den Kinderwagen \u2013 zwar nicht behindert, aber gehandicapt. Ja damals, vor knapp 20 Jahren, habe ich mich auch ge\u00e4rgert, als ich noch den Buggy durch die Stadt schieben musste \u2013 ge\u00e4rgert \u00fcber die Enge und die Intoleranz der sich dr\u00e4ngenden Massen. L\u00e4ngst vergessen. So wie es im Leben nun einmal ist: Was einen nicht selbst betrifft \u2026<\/p>\n

Eines haben die Planer des gigantischen Tiefbahnhofs au\u00dferdem ignoriert, wenn sie ihr Zukunftsprojekt anpreisen: Wir leben in einer immer \u00e4lter werdenden Gesellschaft. Der demografische Wandel wurde bei der Planung nicht ber\u00fccksichtigt. Schlie\u00dflich werden sich sp\u00e4ter unsere Enkelkinder \u00fcber Stuttgart 21 und die daraus resultierenden Vorteile freuen, hei\u00dft es immer noch bei den Projektbef\u00fcrwortern. Wirklich? Ich m\u00f6chte n\u00e4mlich auch als Oma sicher ans Ziel kommen \u2013 egal ob zu Fu\u00df, mit Rollator oder Rollstuhl. Und ich w\u00fcrde gerne mit meinen Enkeln den Schlosspark erkunden statt eines betonierten Neubaugebietes, das nur auf dem Papier adrett aussieht. Auch junge und fitte Menschen sollten nicht vergessen: Das Alter kommt unausweichlich auf uns alle zu. Das ist ein Naturgesetz \u2013 Stuttgart 21 nicht.<\/p>\n

Autorin: Michaele Heske
\nQuelle:
21EINundZWANZIG – Die Rolli-Journalistin<\/a><\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"

Journalisten lieben Selbstversuche \u2013 sei es, dass sie beim Halbmarathon der Stuttgarter Zeitung mitlaufen oder die Stufen des Fernsehturms erklimmen. Einen unfreiwilligen Selbstversuch zum Thema barrierefreies Stuttgart machte auch unsere Redakteurin Michaele Heske Anfang des Jahres, als sie auf einer … Weiterlesen →<\/span><\/a><\/p>\n","protected":false},"author":2,"featured_media":0,"comment_status":"open","ping_status":"closed","sticky":false,"template":"","format":"standard","meta":[],"categories":[793,787,43,161,309,44,201],"tags":[1732,1728,1142,1203,45,1143,1236,1127],"_links":{"self":[{"href":"https:\/\/barrierefrei.gegen-stuttgart-21.de\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/5470"}],"collection":[{"href":"https:\/\/barrierefrei.gegen-stuttgart-21.de\/wp-json\/wp\/v2\/posts"}],"about":[{"href":"https:\/\/barrierefrei.gegen-stuttgart-21.de\/wp-json\/wp\/v2\/types\/post"}],"author":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/barrierefrei.gegen-stuttgart-21.de\/wp-json\/wp\/v2\/users\/2"}],"replies":[{"embeddable":true,"href":"https:\/\/barrierefrei.gegen-stuttgart-21.de\/wp-json\/wp\/v2\/comments?post=5470"}],"version-history":[{"count":6,"href":"https:\/\/barrierefrei.gegen-stuttgart-21.de\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/5470\/revisions"}],"predecessor-version":[{"id":5472,"href":"https:\/\/barrierefrei.gegen-stuttgart-21.de\/wp-json\/wp\/v2\/posts\/5470\/revisions\/5472"}],"wp:attachment":[{"href":"https:\/\/barrierefrei.gegen-stuttgart-21.de\/wp-json\/wp\/v2\/media?parent=5470"}],"wp:term":[{"taxonomy":"category","embeddable":true,"href":"https:\/\/barrierefrei.gegen-stuttgart-21.de\/wp-json\/wp\/v2\/categories?post=5470"},{"taxonomy":"post_tag","embeddable":true,"href":"https:\/\/barrierefrei.gegen-stuttgart-21.de\/wp-json\/wp\/v2\/tags?post=5470"}],"curies":[{"name":"wp","href":"https:\/\/api.w.org\/{rel}","templated":true}]}}