Die Rolli-Journalistin

Journalisten lieben Selbstversuche – sei es, dass sie beim Halbmarathon der Stuttgarter Zeitung mitlaufen oder die Stufen des Fernsehturms erklimmen. Einen unfreiwilligen Selbstversuch zum Thema barrierefreies Stuttgart machte auch unsere Redakteurin Michaele Heske Anfang des Jahres, als sie auf einer Eisscholle vor der Haustüre ausrutschte und sich das Bein gleich mehrfach brach.

Bis zu meinem Sturz hatte ich mir wenig Gedanken über Einschränkungen gemacht. Natürlich hatte ich stets Mitgefühl mit dem Nachbarn im Rollstuhl, den ich zunächst regelmäßig beim „Bonus“-Markt an der Kasse traf, später dann auch beim Schwabenstreich. Ich half der älteren Frau, die sich langsam mit dem Rollator durch die Gegend schob, und nahm ihr die Tragetaschen ab. Gehandicapte Kinder spielten ab und an mit meinem Hund im Park. Ich war also stets hilfsbereit und freundlich – Verständnis, aber ohne jegliches Verstehen. Denn ich war gut zu Fuß und das Schicksal hatte mich vor den bekannten biblischen Behinderungen bewahrt.

Gehilfe (Lindenthal/photocase.com)

Gehilfe (Lindenthal/photocase.com)

Vor ein paar Jahren nahm ich an einem Pressetermin am Hauptbahnhof teil. Eine Gruppe körperlich und geistig behinderter junger Menschen wollte demonstrieren, wie schwer es für Rollstuhlfahrer ist, sich in der Innenstadt zurechtzufinden. Das Ergebnis war traurig: Der Aufzug zur Klettpassage streikte just an diesem Tag, die Verkäuferinnen in den größeren Geschäften tuschelten, als sich gleich mehrere Rollstuhlfahrer in die schmalen Gänge drängten, und die Umkleidekabinen waren zu klein. Der eine oder andere am Schlossplatz machte sich lustig über die Lahmen, Blinden und Stummen, andere reagierten sogar aggressiv. Natürlich wurde meine Reportage nie veröffentlicht. Der gemeine Leser liest eben lieber über die Schönen und die Reichen.

Nichtsdestotrotz – im Januar saß ich also das erste Mal in einem Rollstuhl. Bis dato wusste ich gar nicht, wie wichtig das Thema Barrierefreiheit ist. Mit dem Rollstuhl dreht man keine Pirouetten. Auch hatte ich das Gefühl, mein Gefährt hätte den Wendekreis eines Lasters. Rollstuhlgerechte Toiletten in den Restaurants waren die Ausnahme. Später, als ich mit Gips und Krücken durch die Stadt ging, bemerkte ich erstmals, wie viele Treppen es in Stuttgart gibt – eine gute Übung zum Aufbau der Muskeln, nur fehlten oft die Geländer neben den Stufen. Egal ob vor der Apotheke oder der BW-Bank: Die Angst, erneut zu fallen, lief stets mit. Der Weg in die S-Bahn-Schächte wurde zum Abenteuer, die Bahnfahrt zu meiner Schwester nach Reutlingen zur Zerreißprobe für meine Nerven.

Sicherlich bin ich keine routinierte Gehandicapte mit jahrelanger Erfahrung – aber ich habe eine gute Vorstellung davon bekommen, wie eingeschränkt das urbane Leben für Krückenläufer und Rollstuhlfahrer ist. Und dann wird Anfang des 21. Jahrhunderts ein Bahnhof gebaut, der rücksichtslos alle Gleichstellungsgesetze ignoriert? Dessen Planung weder Behinderte noch ältere Mitbürger berücksichtigt?

„Dass S 21 uns viele sondergenehmigte, risikobeladene Barrieren beschert, ist noch nicht flächendeckend angekommen. Diese zusätzlichen K.-o.-Kriterien für den Tiefbahnhof müssen bekannter werden“, sagt Cornelia Single von der Initiative Barriere-Frei. Und verweist auf die schmalen Bahnsteige, die Aufzüge aus der Tiefe des neuen Bahnhofs, die im Falle eines Unglücks jede Selbstrettung für Rollstuhlfahrer und Rollatorschieber ausschließen. Und weiter: „Im Fokus sollten aber nicht nur die Mobilitätseingeschränkten sein, wenngleich diese am stärksten betroffen sind.“ Denn es gibt viele, denen man ihre Behinderung nicht ansieht: Psychisch Kranke, Gehörlose, Schlaganfallpatienten, Diabetiker und viele andere.

Schöne neue Bahnhofswelt – Menschen mit Handicap kommen auch in den Fotomontagen der S-21-Planer nicht vor (Visualisierung: Aldinger & Wolf)

Schöne neue Bahnhofswelt – Menschen mit Handicap kommen auch in den Fotomontagen der S-21-Planer nicht vor (Visualisierung: Aldinger & Wolf)

Und dann sind da ja noch die Mütter mit den Kinderwagen – zwar nicht behindert, aber gehandicapt. Ja damals, vor knapp 20 Jahren, habe ich mich auch geärgert, als ich noch den Buggy durch die Stadt schieben musste – geärgert über die Enge und die Intoleranz der sich drängenden Massen. Längst vergessen. So wie es im Leben nun einmal ist: Was einen nicht selbst betrifft …

Eines haben die Planer des gigantischen Tiefbahnhofs außerdem ignoriert, wenn sie ihr Zukunftsprojekt anpreisen: Wir leben in einer immer älter werdenden Gesellschaft. Der demografische Wandel wurde bei der Planung nicht berücksichtigt. Schließlich werden sich später unsere Enkelkinder über Stuttgart 21 und die daraus resultierenden Vorteile freuen, heißt es immer noch bei den Projektbefürwortern. Wirklich? Ich möchte nämlich auch als Oma sicher ans Ziel kommen – egal ob zu Fuß, mit Rollator oder Rollstuhl. Und ich würde gerne mit meinen Enkeln den Schlosspark erkunden statt eines betonierten Neubaugebietes, das nur auf dem Papier adrett aussieht. Auch junge und fitte Menschen sollten nicht vergessen: Das Alter kommt unausweichlich auf uns alle zu. Das ist ein Naturgesetz – Stuttgart 21 nicht.

Autorin: Michaele Heske
Quelle: 21EINundZWANZIG – Die Rolli-Journalistin

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