Gedanken zu „Gewalt in der öffentlichen Diskussion”

Gedanken zum Thema ‚Gewalt’ in der öffentlichen Diskussion
Autor: Dr. R. Schmittmann, Psychologe

Es braucht dringend klärende Strukturierungen, wenn in einer demokratischen Gesellschaft über Gewalt geredet wird, weil die Kommunikation mit diesem Begriff sehr schwierig und manchmal undurchsichtig ist und so zu Machtzwecken von den sowieso schon Stärkeren gegen Schwächere der Gesellschaft verwendet werden kann. Dafür muss die Diskussion aus dem Bereich der kommunikativen Suggestionen heraus.

Um den wichtigsten Punkt vorwegzunehmen:  Sprechen wir psychologisch betrachtet über so etwas wie Gewalt, befinden wir uns im Bereich der Methoden zur Durchsetzung von Interessen. Was wir auf der Verhaltensebene als Gewalt bezeichnen können, das wissen wir eigentlich, es hat etwas mit ‚Schadenzufügung’ und ‚Schaden in Kauf nehmen’ zu tun, nur die Bewertung in Bezug auf eine angeblich gerechtfertigte Anwendung eines solchen Verhaltens wechselt je nach Perspektive und Interessen. Ausschlaggebend ist aber jetzt nicht ein allgemeiner Beurteilungsrahmen, sondern der aktuelle Handlungskontext.

Es fängt nämlich ganz einfach damit an, welche Absicht man in einem Kommunikationsfeld verfolgt:

Will man es in einem sozialen Gefüge friedlich und konstruktiv haben, dann muss man anders vorgehen und kommunizieren, als wenn einem das egal ist und man nur seine eigenen Interessen durchsetzen will.

Danach richtet sich, ob ein bestimmtes Verhalten (auch wenn es sehr heftig ist) so eingeschätzt wird, dass es ein ‚Füreinander’ aufbaut oder ein ‚Gegeneinander’ riskiert. Wenn das ‚Füreinander’ einfacher wäre, nicht immer so ein Balanceakt wäre, nicht permanent bedient werden müsste, dann hätten wir Menschen es leichter. Der Mensch ist generell zu aggressivem und verletzenden Verhalten in der Lage, und setzt es auch mehr oder weniger kontrolliert ein. Wir müssen nur bedenken, dass das nur eine Variante ist, anderen Schaden zufügen zu können.

Um den Schaden geht es aber, der das ‚Füreinander’ letztlich gefährdet.

Besonders schwierig wird es jedoch dadurch, dass der Mensch auch in der Lage ist, ein ‚Füreinander’ vorzutäuschen, um massiv seine Interessen gegen den anderen und zu seinem Schaden durchzusetzen.

1. Wenn das ‚Füreinander’ still und heimlich einseitig aufgegeben wird

Sprechen wir länger mit ausdrücklichen Ablehnungsgebärden über das Thema Gewalt, bekunden und geloben wir uns gegenseitig Gewaltfreiheit, dann hat das in der aktuellen Situation damit zu tun, dass wir uns in sozialen Gemeinschaften permanent gegenseitig versichern müssen, dass wir uns nicht an den Kragen gehen und nicht aus der Gemeinschaft ausschließen wollen, d.h. einander nicht schaden wollen. Soziale Gemeinschaften brauchen als Grundlage die gegenseitige  aktuelle und generelle ‚Gewinnzusicherung’. Das ist die Basis.

Gehen einzelne Gruppierungen zunehmend aber so vor, dass sie ihre eigenen Gewinn- Interessen einseitig und ohne Abstimmung gegen andere durchsetzen, dann haben sie schon die Ebene einer loyalen Gemeinschaft  verlassen.  Denn friedlich und konstruktiv wird es in einer sozialen Gemeinschaft nur, wenn für die Auseinandersetzung um eventuell auch unterschiedliche Interessen die kommunikativen Methoden der Befragung, der Abstimmung, der Koordinierung benutzt werden.  Verwendet eine Gruppierung diese kommunikativen Methoden nicht, heißt das für die anderen Gruppierungen sofort, man will einen einseitigen Gewinn für sich gegen die anderen durchsetzen, das heißt, man will den Schaden anderer Gruppierungen unbesehen in Kauf nehmen, womit unvermeidlich ein ‚Gegen’, ein Ausschließen, das Feindliche entsteht. Das anfänglich soziale loyale Gebilde fängt an sich aufzulösen.

2.  Wenn die Methoden der kommunikativen Koordinierung aufgegeben werden

Das Unterlassen kommunikativer Koordinierungsmethoden ist der Startschuss zur Aufkündigen der sozialen loyalen Gemeinschaft. Das kennt jeder auch aus  Partnerschaftskonflikten: Über ein zuvor schadenserzeugendes Verhalten (was immer mal passieren kann) muss eine grundlegende revidierende kommunikative Auseinandersetzung stattfinden, damit es wieder zu einer Angleichung der übergeordneten Interessen kommen kann, auf der Basis, keinen Schaden für den anderen, sondern gemeinsamer ‚Gewinn’, dann kann es wieder friedlich und konstruktiv werden. –  Fängt jedoch derjenige an, den Schaden des anderen herunterzuspielen, zu ignorieren, und gleichzeitig seinen eigenen Gewinn dagegen zu verschleiern, signalisiert er damit, der andere habe keinen Grund, sich zu beklagen, und kickt ihn damit erst recht aus dem sozialen System: In diesem muss die gemeinsame Befragung, Abstimmung übergeordneter Interessen immer zugelassen sein, weil das Verstehen und Berücksichtigen der Interessen des anderen dafür unabdingbar ist. Wird obendrein das Anmelden des Schadens als unberechtigt, als Nestbeschmutzung, als Quengelei, als Nein- Sagen abgewertet, müsste der Schadensträger zum Selbstschutz sofort dieses System verlassen, weil der uneinsichtige Schadenserzeuger das gemeinsame loyale System offensichtlich einseitig aufgekündigt hat. Dauerhaft schwierig wird es, wenn die geschädigten Gruppen das Gebiet nicht mehr verlassen können und in relativer Nähe mit ihren Schadenserzeugern leben müssen.

3.  Wenn die suggestive Fixierung auf die Durchsetzungsmethoden in Gang gesetzt wird

Das Unterlassen der kommunikativen Koordinierungsmethoden (nach dem Thema ‚Füreinander’ und jeder soll gewinnen) hat den Kipp in eine anderes Methodenrepertoire (nach dem Thema ‚Gegeneinander’) zur Folge, in das der Durchsetzungsmethoden nach einem Entweder- Oder: Gewinner oder Verlierer.

Zeigt sich, dass es nämlich nur noch um Durchsetzungsmethoden in einem System geht, ist der Boden für eine loyale Gemeinschaft schon entzogen, weil einem der Schaden des anderen dabei egal ist; es geht nicht mehr um das Interesse an den Interessen des anderen und deren Abstimmung.

Was jetzt meistens zusätzlich noch passiert, ist folgendes: In Bezug auf die möglichen Durchsetzungsmethoden verschafft sich der Schadenserzeuger die Bewertungshoheit: Geländegewinne, sowie die Sicherung vorteilhafter Lebens- und Verteidigungsgrundlagen werden als ‚gut’ und legitim, also keine Gewalt, deklariert, das Sich-direkt-dagegen-Wehren mit sichtbarem körperlichem Einsatz wird als ‚böse’, als abzulehnende ‚Gewalt’ abgewertet und diese darf bestraft werden (so ähnlich läuft das zwischen Israelis und Palästinensern und bei allen Großgrundbesitzer- Gesellschaften).

4.  Wofür sich die Bewertungshoheit über die Durchsetzungsmethoden  etabliert

Das öffentliche breite Reden suggeriert, es ginge nur um die deutlich sichtbaren ‚bösen’ Durchsetzungsmethoden, nämlich die offene sichtbare ‚Gewalt’ auf der Straße. Es dient aber eigentlich nur zwei Absichten: Erstens der Verschleierung der eigentlich nicht vorhandenen Bereitschaft, für die gleichberechtigte  Interessensabstimmung innerhalb einer sozialen Gemeinschaft etwas zu tun und zweitens zur Imagepflege, als wenn man noch in einer sozialen loyalen Gemeinschaft lebte.  Mit der Scheinloyalität wird ein schon längst bestehendes ‚Gegen’ unkenntlich gemacht und somit ein offener Krieg gegen Mitglieder des eigenen Sozialsystems zunächst umgangen. Nur diese sind in massive Bedrängnis gebracht und können nicht einfach gehen.

Man merke sich: Die loyale Ebene ist schon längst verlassen, wenn es nur um die Durchsetzungsmethoden geht.

Mit der Scheinloyalität lässt sich jedoch eine willkommene  Diskussion über  körperliche Gewalt derjenigen endlos führen, die sich gegen den zuvor erzeugten Schaden nicht mehr anders zu wehren wussten: Das eigene zuvor asoziale Verhalten kann verschleiert werden, dadurch dass man mit dem Finger auf andere zeigt und ihn der nicht zu billigen ‚Gewaltanwendung’ bezichtigt.

Wenn so aber anderen Mitglieder des selben sozialen Systems ein doppelter Schaden zufügt wird (auf der Interessensebene und auf der Imageebene), dann ist ein friedliches und konstruktives Zusammenleben nicht mehr möglich.

5.  Worum es eigentlich geht

Eigentlich geht es um ein viel generelleres Thema: – Es geht um die Pflege kommunikativer Koordinierungsmethoden zur Befragung, Abstimmung und Koordinierung von Interessen für den beidseitigen ‚Gewinn’ und zur Vermeidung jedweden möglichen Schadens in einer Gemeinschaft; gönnt man dem anderen einen ‚Gewinn’, entsteht ein ‚Füreinander’. (Deswegen verteilen zur Zeit manche gefährdete arabische Staaten große Geldsummen an ihre eigene Urbevölkerung, damit es dort nicht zu Demonstrationen und zum Umsturz kommt). Auch mit einem bedingungslosen Grundeinkommen würde sich wieder eine soziale loyale Gemeinschaft entwickeln können. Dass das wenigstens halbwegs klappt, wünscht man sich eigentlich idealerweise von der Demokratie.

Dafür müsste aber das Muster ‚übermäßiger Gewinne auf Kosten und zum Schaden anderer’ stärker negativ sanktioniert werden und nicht umgekehrt, sogar noch gefeiert werden dürfen.

6. Beispiel Stuttgart 21: Unter vielen wachen Augen

Auf die Auseinandersetzungen um Stuttgart 21 angewendet heißt das folgendes: Bestimmte Wirtschaftsinteressen (Bahn) und politische Interessen (nicht nur CDU) haben sich vom Gemeinwohl und vor allem von der Bereitschaft, kommunikative Koordinierungsmethoden anzuwenden, verabschiedet.

–  Das erkennt man daran, dass die Bahn (und die vorherige Regierung in Stuttgart) nur auf Durchsetzungsmethoden setzt; das macht man nur mit Gegnern, mit Feinden, also Menschen, die man nicht zum gleichen Loyalitätssystem dazu rechnet und letztlich ausschließt (wenn man sie nicht zur Stadt hinauskriegt,  dann versklavt man sie).

– Das erkennt man daran, dass diese sowieso schon dominierenden Interessensgruppen jetzt noch vehement die ‚Gewaltdiskussion’ aufmachen und  anderen Sozialmitgliedern zum ersten Schaden noch einen weiteren hinzufügen, um die  Diffamierung und Ausschließung angeblich gewaltbereiter Gruppierungen öffentlichkeitswirksam begründen zu können.

Das schöne an den Stuttgarter Verhältnissen aber ist folgendes: Es läuft noch mal alles deutlicher und über eine lange Zeit verteilt vor den Augen einer größeren wachen Zuschauermenge ab.

Das Ergebnis: Man sieht die Scheinloyalitäten (s. Etikettenschwindel) deutlicher und merkt, dass hier eine doppelte Schadenszufügung zum Zwecke der Verschleierung des eigenen asozialen Verhaltens im Gange ist.

7.  Die unorganisierte Realität der Protestkultur anerkennen

Bei der vorliegenden Situation S21 hat man es dank Aussparung kommunikativer Koordinierungsmethoden schon mit einer enorm einseitigen legitimierten Interessensdominanz zu tun, die es geschafft hat, auch zu suggerieren, es ginge nur noch um ‚gute- und böse’ Durchsetzungsmethoden.

Mit dem Versuch, diese Art Abwertungen in die öffentliche Diskussion einzuführen, qualifiziert sich aber diese Interessensseite als ehrliche ‚Demokraten’ vollends ab, weil sie einen doppelten Schaden für andere in Kauf nimmt und bewusst inszeniert.

Wenn man nämlich in einer Demokratie ausdrücklich für Demonstrationen und Protestkundgebungen ist, muss man auch für einen entsprechenden ‚nichtbewertenden’ Umgang mit ihnen sorgen:

Die Realität ist, dass Protestbewegungen und Demonstrationen natürlich nie eine Organisationsform haben können wie die Polizei oder Behörden, (obwohl das Organisieren, d.h. das Zustandebringen einer Protestbewegung durch die elektronischen Medien in jüngerer Vergangenheit erheblich verbessert worden ist) und deswegen darf man sie nicht damit vergleichen und ähnlich behandeln:

Es kommen Menschen zusammen,
–  die sich meist noch nie zuvor gesehen haben,
–  die keinen Überblick darüber haben, was drei Meter weiter weg von ihnen gerade passiert,
–  die nur wenige gemeinsame Strategien vorweg absprechen und sich kaum über Funk verständigen können (noch schwerer, wenn die Polizei den Handy- Kontakt stört),
–  die vor Ort nur ganz wenig Einfluss und Kontrolle über die Koordinierung bestimmter Handlungsabläufe haben können,
–  die keine Befugnisse haben, sich gegenseitig Anweisungen geben zu dürfen, (der andere muss nicht tun, was man ihm sagt).

Das sind gravierende Schwächen und Nachteile einer unorganisierten Bewegung und die sind ihr inhärent und das weiß jeder. Und man darf sie nicht noch ausnutzen und ihr vorwerfen.

Eine Protestbewegung trifft vor Ort auf eine Polizei, die hoch trainiert ist, straff hierarchisch organisiert und kommunikativ intensiv vernetzt über Sprechfunk. Wenn in einem solchen – auf perfektes Funktionieren ausgerichteten Organisationsgebilde – an irgendeiner Stelle etwas Unkontrolliertes passiert, kann man entsprechenden Führungskräften in Richtung Verantwortung  Vorwürfe machen.

8. Zum pfleglichen ‚nichtbewertenden’ Umgang mit Unkontrollierbarem

Wenn man jedoch einer Protestbewegung trotz dieses Wissens Vorwürfe macht, weil angeblich sogenannte ‚Ausschreitungen’, also Beschädigungen von Sachen und Personen passieren,  ‚gewaltbereite Personen’ gesichtet wurden, wirft das vor allem ein bezeichnendes Licht auf diejenigen, die so argumentieren und so viel Aufhebens davon machen und die unterschiedlichen Realitäten nicht verstehen oder verstehen wollen.

Versucht aber obendrein die Polizei diese Schwächen einer solchen Bewegung im schlimmsten Fall noch auszunutzen, indem sie in die anonyme Menge Provokateure einschleust, die zu gewalttätigen Handlungen anstiften, dann ist der gemeinsame Boden für ein soziales Gemeinschaftsgefüge mehr als gefährdet.

Es ist juristisch festgelegt, was bei Demonstrationen tolerierbar ist und was nicht und was damit nicht strafbar sein darf, weil sonst Protestveranstaltungen witzlos sind.

Nur fehlt es eindeutig an moderneren Beurteilungsmaßstäben dafür, wenn bei solchen Protestveranstaltungen Unbeabsichtigtes und Unkontrollierbares passiert. Bisher wurde das immer von der politischen Seite schamlos ausgenutzt und zu Lasten von Protesten gerechnet.  Da ist eine große Lücke, die sich jetzt deutlicher bei den zivilen und relativ kontrollierten Protesten in Stuttgart zeigt.

Man muss sogar sagen, dass bei Entgleisungen mit zweierlei Maß gemessen werden müsste: Bei der straff geführten Polizei anders als bei unorganisierten Demonstranten.

Hier soll vor allem eines gezeigt werden, dass man eine solch unorganisierte Protestbewegung, die auch noch als öffentliche Veranstaltung ohne Eintrittskarte funktioniert und soziologisch kaum zu definieren ist, nicht mit einer straffen hierarchischen Organisation vergleichen darf.  Auch das Entstehen von Teams, Arbeitsgruppen und spontanen Aktionsbündnissen darf nicht zum Anlass genommen werden, hier zu meinen, man könne (juristische) Verantwortungen wie in einer Organisation ausmachen oder einzelne ‚Ausschreitungen’ oder Übertretungen der ganzen Bewegung anlasten. Hier kommt man wahrscheinlich nicht mit juristischen Mitteln weiter.

Zu einer neuen Protestkultur, wie sie in Stuttgart entstanden ist, gehört auch, dass die Medien, die Juristen und Politiker dringend dazulernen müssen, wie man anders mit Unkontrollierbarem umgeht, sonst nimmt man Proteste nicht als demokratische Veranstaltung ernst.

Autor: Dr. R. Schmittmann, Psychologe
ww.schmittmann-coaching.de

(27. Juni 2011 von Walli)
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