{"id":6119,"date":"2011-06-20T21:43:08","date_gmt":"2011-06-21T08:43:08","guid":{"rendered":"http:\/\/barrierefrei.gegen-stuttgart-21.de\/?p=6119"},"modified":"2011-06-20T22:52:03","modified_gmt":"2011-06-21T09:52:03","slug":"rede-von-dr-bongartz-am-sudflugel","status":"publish","type":"post","link":"https:\/\/barrierefrei.gegen-stuttgart-21.de\/2011\/06\/20\/rede-von-dr-bongartz-am-sudflugel\/","title":{"rendered":"Rede von Dr. Bongartz am S\u00fcdfl\u00fcgel"},"content":{"rendered":"
<\/a>H\u00e4nde weg vom S\u00fcdfl\u00fcgel, er ist unverzichtbar! Sehen Sie selbst<\/strong><\/p>\n … mit den Augen von Dr. Norbert Bongartz (Mitglied bei ArchitektInnen f\u00fcr K21<\/a>), Ober-Konservator im Ruhestand, ehemaliger Denkmalpfleger am fr\u00fcheren Landesdenkmalamt.<\/p>\n Liebe am drohenden Schicksal des Kopfbahnhofs Mitleidende und immer noch nicht resignierte, immer noch hoffnungsvolle Zuh\u00f6rer und Zuh\u00f6rerinnen,<\/p>\n der S\u00fcdfl\u00fcgel, vor dem wir stehen, steht immer noch auf der \u201eAbschu\u00dfliste\u201c der Bahn, die das an-geblich zukunftsorientierte Tiefbahnhof-Projekt S21 – allen neueren Erkenntnissen zum Trotz – ver-teidigt und weiter verfolgt. Dabei assistieren ihr sowohl die Stuttgarter Stadtspitze plus Gemeiderat als auch \u2013 immer noch \u2013 eine erhebliche Mehrheit der Parteien im Landtag, einschlie\u00dflich der SPD.<\/p>\n Um die Preisgabe der beiden L\u00e4ngsfl\u00fcgel in der \u00d6ffentlichkeit zu bem\u00e4nteln oder gar zu besch\u00f6ni-gen, hatten sich die f\u00fcr den Tiefbahnhof Verantwortlichen keine Skrupel, die beiden Fl\u00fcgelbauten als unerhebliche Teile des Bonatzbaus zu bezeichnen. Einige verstiegen sich sogar zur Diffamie-rung der beiden L\u00e4ngsfl\u00fcgel als \u201eKruscht\u201c oder \u201eH\u00fcttenwerke\u201c! F\u00fcr mich als Baugeschichtler war das eine unverfrohrene Frechheit, die mich zornig gemacht hatte.<\/p>\n Nat\u00fcrlich geht es hier \u201enur\u201c um ein Kulturdenkmal, wenngleich von besonderer Bedeutung. Derar-tige Baudenkm\u00e4ler gibt es viele in unserem Land, die man nur mit \u00e4u\u00dferster Zur\u00fcckhaltung und nach sorgf\u00e4ltigen Abw\u00e4gungen aller Argumente und Alternativen aufgeben w\u00fcrde. Und wenn dann je der Fall einer Freigabe zu einem Abbruch eintritt, dann geschah dies bisher nur mit der Beteue-rung, wie leid es den Verantwortlichen tue, diesen ultimativen Schritt verantworten zu m\u00fcssen.<\/p>\n Beim Projekt S21 hat diese von mir skizzierte Art der Kulturpolitik von Anfang an keine Rolle gespielt. Von irgendeiner Betroffenheit der Tiefbahnhof-Bef\u00fcrworter ist bis heute nichts zu sp\u00fcren. Es w\u00e4re aber bitter n\u00f6tig gewesen, angesichts der herausragenden Bedeu-tung des Bonatz’schen Bahnhofs und dieses Bauteils \u2013 des S\u00fcdfl\u00fcgels in der Architekturgeschichte. Das will ich nun in der gebotenen K\u00fcrze n\u00e4her erl\u00e4utern.<\/p>\n Was sehen wir hier: Vor die Gleise, die hier in H\u00f6he des 1. Obergeschosses liegen, hat Bonatz und sein Partner Scholer 1911 einen lang gestreckten hohen Bauk\u00f6rper gestellt, der zum einen die Bahnsteighallen einfassen, einrahmen sollte. Zum anderen sollte der S\u00fcdfl\u00fcgel dem Bahnhof ein w\u00fcrdiges Gesicht zu den damals noch k\u00f6niglichen Parkanlagen geben. Drei knapp vor die Flucht des Bahnhofsturms und vor die Front des S\u00fcdfl\u00fcgels vortretende markante Geb\u00e4udekuben rhythmisieren seine lange, \u00fcber 200m lange Fassade.<\/p>\n Ihr Mauerwerk wurde aus roh bossierten Muschelkalk-Quadern aufgeschichtet; die wie Felsen inzenierten Natursteine strahlen Dauerhaftigkeit, Zeitlosigkeit aus; dadurch wirkte der neue Haupt-bahnhof von Anfang an so, als ob er f\u00fcr die Ewigkeit gebaut sei.<\/p>\n Das rauhe Bossenquader-Mauerwerk entfaltet jedoch erst seine suggestive Wirkung durch den sensibel gestalteten Kontrast mit gegl\u00e4tteten Oberfl\u00e4chen. In der Musik w\u00fcrde man von einem Kontrapunkt sprechen.<\/p>\n Schauen wir uns erst einmal die Fassade eines zur\u00fcckliegenden Teils der S\u00fcdfl\u00fcgels n\u00e4her an: Im Bereich der Fenster sind einzelne Mauerfelder zur\u00fcckgesetzt, mit gegl\u00e4tteter Oberfl\u00e4che. Zwischen diesen blieben Wandpfeilerartige schmale Mauerstreifen stehen. Jeder Architekt h\u00e4tte diese vor-springenden Mauerstreifen damals wie tragende Pfeiler oder wie Pilaster gestaltet: mit Sockeln und Kapitellen, um als als Tr\u00e4ger des obersten Stockwerks in Erscheinung zu treten. Dementsprechend w\u00e4ren die rauhen Oberfl\u00e4chen seitlich um die Kanten herumgezogen worden. Mit anderen Worten: Indem die gegl\u00e4tteten Oberfl\u00e4chen der Nischen auf die Pfeilerkanten vorgezogen wurden, verlieren diese an Kraft und erhielten eine un-tektonische Wirkung. Bonatz hat also hier bewu\u00dft auf den traditionellen, seit der Antike gel\u00e4ufigen Formenapparat verzichtet, mit dem das Tragen und Lasten der Bauteile augenf\u00e4llig unterstrichen wurde.<\/p>\n Gleichzeitig hat Bonatz doch mit genau dieser Thematik gespielt – mit dem Gestaltungsmittel der sogenannten scheitrechten B\u00f6gen: Zwischen den Pfeilerenden und unterhalb der Fenster des obersten Stockwerks erkennen wir im Mauerwerk lange Keilsteine extrem flach gedr\u00fcckter, so genannter scheitrechter B\u00f6gen, wie sie \u00fcblicherweise \u00fcber Mauer\u00f6ffnungen anstelle riesiger Sturz-balken zur Lastabtragung des dar\u00fcber liegenden Mauerwerks eingesetzt wurden. Folglich sollte das gegl\u00e4ttete Mauerwerk in den flachen Nischen wie ein sp\u00e4ter eingesetztes nicht tragendes F\u00fcllmauer-werk wirken. Wir k\u00f6nnen auch sagen: Mit den flachen, eingedr\u00fcckten Nischen brach Bonatz die wuchtige, felsige Wirkung der Au\u00dfenhaut auf und schuf damit eine Fassaden-Komposition, die neuartig war.<\/p>\n Mit dieser reduzierten und zugleich sehr differenzierten Formgebung hat Paul Bonatz zu einer neuen architektonischen Formensprache gefunden, die er aus Anregungen komponierte, welche er in \u00c4gypten gefunden hatte. Diese bewu\u00dft schlichte Sprache ist ohne Vergleich nicht nur in Baden-W\u00fcrttemberg und darf sogar als einmalig bezeichnet werden.<\/p>\n Schauen wir uns als n\u00e4chstes die Fassade eines der vorspringenden Bl\u00f6cke an: Mit den vorspringenden Deckplatten an den Pilasterk\u00f6pfen hat Bonatz diesen tats\u00e4chlich eine tragende Rolle zugewiesen. So wirken die Nischen auch hier wie urspr\u00fcnglich offene, sp\u00e4ter wieder zugemauerte hohe Mauer\u00f6ffnungen. Doch durchbricht Bonatz auch hier das Spiel von Tragen und Lasten \u2013 wie ich finde mit einem Augenzwinkern: In den glatten, vermeintlich leichten Fassaden-teilen setzte er \u00fcber den Fenstern des ersten Obergeschosses hohe Keilsteine ein, zur Abtragung einer vermeintlich schweren Auflast…<\/p>\n Verehrte Zuh\u00f6rer, und Zuh\u00f6rerinnen: Ich hoffe, Sie k\u00f6nnen mir zustimmen, da\u00df eine derart sensible Entwurfsarbeit und ihr Ergebnis eine erkennbar hohe k\u00fcnstlerische Qualit\u00e4t besitzen.<\/p>\n Solche hochwertigen Baudenkm\u00e4ler verdienen einen intensiven Schutz und verst\u00e4rkte Zuwen-dung, weil sie unwiederbringliche Zeugnisse der kulturellen Entwicklung unserer Gesellschaft und des historischen Wandels sind. Ich bin mir sicher, dass Landwirte, die sich zur Notschlachtung einer leidenden Kuh entschei-den, verantwortungsvoller handeln als die sogenannte politische Elite unseres Bundeslandes, die den Kopfbahnhof und wesentliche seiner Teile zur Notschlachtung freigegeben haben.<\/p>\n Seit der Landtagswahl qu\u00e4le ich mich mit der Frage, warum die SPD dieses widersinnige S21-Projekt wider besseres Wissen und Gewissen immer noch weiter verfolgt?<\/p>\n F\u00fcr mich gilt nur eins: Oben bleiben!<\/p>\n HINWEISE<\/span> H\u00e4nde weg vom S\u00fcdfl\u00fcgel, er ist unverzichtbar! Sehen Sie selbst … mit den Augen von Dr. Norbert Bongartz (Mitglied bei ArchitektInnen f\u00fcr K21), Ober-Konservator im Ruhestand, ehemaliger Denkmalpfleger am fr\u00fcheren Landesdenkmalamt. Liebe am drohenden Schicksal des Kopfbahnhofs Mitleidende und immer … Weiterlesen
\nHier entstand ein Bauwerk, das weit \u00fcber den Anspruch eines Zweckbaus hinausgehend gestaltet worden ist.<\/p>\n
\nDiese treten massiger, noch felsiger auf als die vorhin beschriebenen Fassadenteile, was daran liegt, da\u00df die \u00e4u\u00dferen Fenster ohne flache Nische in das rauhe Quaderwerk eingeschnitten wurden. Umso markanter wirkt die Mittelpartie der Fassade. Hier wurden drei flache Nischen, breiter als die zuvor beobachteten, nebeneinanderger\u00fcckt, nunmehr mit drei dreiseitig glattfl\u00e4chigen Pilastern getrennt. Wir k\u00f6nnten auch sagen, wir sehen hier eine \u00fcber vier Fensterachsen breite Nische, die durch drei Pilaster unterteilt wurde. Diese zentrale Fassadenpartie wurde einerseits wie eine Ein-gangsfront strukturiert, andererseits durch die breitgezogene Glattfl\u00e4chigkeit veredelt. Die Nischen verleihen jedem dieser vorgesetzten Baukuben eine imposante, fast schon sakrale Wirkung.<\/p>\n
\nWer diese Werte nicht erkennt oder nicht wahrhaben will, der leidet unter \u00e4sthetischen Wahr-nehmungsst\u00f6rungen oder hat es erfolgreich geschafft, die nat\u00fcrliche Bei\u00dfhemmung gegen\u00fcber einem hochwertigen Denkmal zu unterdr\u00fccken.<\/p>\n
\n\u2022 ArchitektInnen f\u00fcr K21: Unterst\u00fctzererkl\u00e4rung<\/a> f\u00fcr den kompletten erhalt des Kulturdenkmals Bonatz-Bau (Kopfbahnhof Stuttgart).
\n\u2022 VIDEOS: 2. Kulturmittwoch (4.8.2010):
\nExperten-Runde „Bonatz-Bau“<\/a>
\n<\/strong>Eine hochrangige Expertenrunde, bestehend aus Architekten, Kunsthistorikern und Konservatoren diskutierten \u00fcber Paul Bonatz<\/a> und sein Hauptwerk, den teilweise vom Abriss bedrohten Stuttgarter Hauptbahnhof<\/a>. Teilnehmer des Gespr\u00e4chs waren
\nEgon Hopfenzitz, Dr. Matthias Roser, Dr. Norbert Bongartz<\/span>, Peter D\u00fcbbers, Prof. Roland Ostertag<\/a> und Dorothee Keuerleber.<\/p>\n","protected":false},"excerpt":{"rendered":"