Liebe Mitstreiterinnen und Mitstreiter,
im Folgenden leite ich Euch/Ihnen einen weiteren Artikel des Psychologen Dr. Robert Schmittmann weiter, dessen Lektüre ich Ihnen/Euch wärmstens empfehlen möchte. Nach der Schlichtung, seit der die Fakten zu Stuttgart 21 für alle offensichtlich auf dem Tisch liegen, muss sich der Streit auf der Meinungsebene eigentlich erledigt haben, ärgerlicherweise wird er aber immer noch auf dieser Ebene geführt – sogar die Autoren der Seite „Kontext“ in der TAZ gehen dieser Argumentationsebene auf den Leim -, was der Betreiberseite von S21 nützt. Bitte nicht davon stören lassen, dass bei dem Artikel der „Anmarsch“ zum Thema S21 etwas weiter ist; ich halte es für sehr nützlich, dass er weiter ausholt, Hintergründe beleuchtet und auf diese Weise dringend notwendige Substanz für die eigene Argumentation liefert. Wie der Artikel zum Thema Gewalt darf auch dieser Artikel – mit Angabe des Autors – gerne verbreitet werden.
Herzliche Grüße
Guntrun Müller-Enßlin
Pfarrerinnen, Pfarrer und Christen gegen Stuttgart 21
Homepage: www.s21-christen-sagen-nein.de
Blog: www.s21-christen-sagen-nein.org
Stuttgart 21 – Christen sagen NEIN
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Einige Überlegungen zum Thema ‚Kampf der Meinungen’
Autor: Dr. Robert Schmittmann (Juni 2011)
Über ‚Meinungen’ wird in den Medien immer viel geredet, es wird im demokratischen Kontext über den dringend notwendigen ‚Meinungsaustausch’ gesprochen und häufig auf das Recht auf ‚Meinungsäußerung’ gepocht. Übersehen wird dabei, dass das mit der ‚Meinung’ – psychologisch betrachtet – eine ganz schwierige Sache ist und deshalb viel Schindluder damit getrieben werden kann. Einige sortierende Gedanken sind dringend notwendig.
1. Informiert-Sein ist etwas anderes als eine Meinung haben
Der Begriff ‚Meinung’ ist auf der Ebene der Kommunikation relevant und wir fragen uns, wann redet man häufig von Meinung und wann täte man es besser nicht. – Es sieht so aus, als wäre es manchmal wichtiger, eine ‚Meinung’ zu haben, als gut informiert oder nachdenklich zu sein und auf dem ‚Marktplatz’ der Kommunikation spielt ‚Meinung’ offenbar ziemlich unreflektiert eine ganz große Rolle, die man als psychologisch denkender Mensch nicht so leicht nachvollziehen kann.
Wenn wir unsere Meinung äußern, ist nicht unerheblich dabei, dass wir uns für andere zu erkennen geben, zu welcher Gruppierung wir gehören und das muss offenbar schnell gehen. Geben wir uns zögerlich, zu gängigen Sachverhalten unsere Meinung zu sagen, und versuchen obendrein zu differenzierteren Überlegungen auszuholen, wird unser Gegenüber schnell nervös und fällt uns besserwisserisch ins Wort.
Über Meinungen zu reden, hat auf der Kommunikationsebene offenbar eine absolut vorrangige Funktion für Gruppenbildungsprozesse und Parteienbildung (zählt man zu denen oder denen?). Es sieht so aus, als wenn der Unterschied nicht mehr wahrgenommen würde, dass ‚Informiert Sein’ grundsätzlich etwas anderes ist, als ‚eine Meinung zu haben’ und dass es kein seltenes gesellschaftliches Phänomen ist, dass der Tatbestand des ‚Informiert-Seins’ auf verlorenen Posten gegenüber dem massiven Anspruch ‚eine Meinung-haben-zu-dürfen’ steht.
Solche Kollisionen kommen natürlich auch dadurch zustande, weil es viel leichter ist, eine Meinung zu haben, als sich zu informieren. Deswegen liegt es für viele superschnelle, angeblich moderne Zeitgenossen stark im Trend, viel darin zu investieren, immer die richtige Meinung zur richtigen Zeit parat zu haben, statt in etwas mühsamere Prozesse des Sich-Informierens und Sich-Kundig-Machens einzutreten. Und weil das mit der Meinung auch noch viel einfacher und schneller geht, kann man nicht nur den zeitlichen Vorsprung konkurrenzmäßig anderen gegenüber ausnutzen, sondern das mit der Meinung scheint sich auch noch in manche rationierten und beschleunigten Arbeitsprozesse reibungsloser einzupassen.
2. Um was geht es, wenn es nicht um das ‚Wahr – Unwahr’ geht?
Treffen jetzt ein Vertreter des ‚Informiert-Seins’ und ein Vertreter des ‚Meinung-haben-dürfens’ zusammen, lässt normalerweise derjenige mit der Meinung dem Informierten den Vortritt und hört ihm zu, weil der mehr zu sagen hat. So sollte es eigentlich sein.
Normal sollte auch sein, dass man sich auf bestimmte Realitätswahrnehmungen von grundlegenden Sachverhalten einigen kann. Sich gemeinsam ein Bild von einer Sachlage zu machen – ich sehe das gleiche, was du siehst – , ist etwas sehr Wichtiges in sozialen Gefügen. Übrigens war das auch zunächst wesentlicher Bestandteil der Schlichtung bei Stuttgart 21: Eine gemeinsame übereinstimmende Sicht auf gravierende Mängel des Projekts führte zwischendurch sogar zu der Äußerung des Schlichters H. Geißler: „Wenn das so ist, dann darf man den Bahnhof nicht bauen“ und den Kritikern (Boris Palmer) wurde daraufhin sogar ein Job bei der Bahn angeboten. – Da war man auf dem Boden der gemeinsamen Realitätswahrnehmung, es konnte kurzfristig friedlich und es hätte konstruktiv weiter gehen können, wenn das nicht mit der ‚Meinung’ gewesen wäre.
Bei dem Mühen und Ringen um eine möglichst unverfälschte Wahrnehmung der Realität befindet man sich seit 2500 Jahren im Bereich der Wissenschaft, die den Code ‚wahr – unwahr’ verwendet. Dieser Code ist seit einiger Zeit in großer Gefahr; Geld und Wirtschaftsinteressen versuchen ihn zu degradieren (s. Guttenberg- Affäre).
Die Zeiten für eine Demontage scheinen gefährlich günstig: Je unübersichtlicher und undurchschaubarer eine Informationslage nämlich ist oder gestaltet wird, um so eher kann die Kommunikation vom überprüfbaren Code ‚wahr – unwahr’ weggeführt werden. Es geht dann eher in Gesprächen um den meinungsbildenden und gruppendynamisch wirksamen Code: ‚Ist man der einen oder anderen Meinung’ und wenige merken noch, dass es eigentlich darum gehen müsste, sich eine bessere Informationsbasis zu verschaffen.
3. Wenn das ‚Informiert-Sein’ , wenn Arbeit nichts mehr wert ist
Es gibt gravierende Auswirkungen, wenn die Zustimmung und Annahme einer Realitätswahrnehmung (Ich sehe, was du siehst) verweigert wird und das passiert, wenn eine Seite weiter darauf beharrt, weiterhin anderer Meinung zu sein, ohne auf die angebotene sachliche Informationsebene eingegangen zu sein. Sie riskiert den Abbruch der Kommunikation.
Das kommt nämlich einem Abwerten gleich und lässt dem Gegenüber nur die Möglichkeit, vehement aus dem System auszusteigen oder depressiv zu werden oder auszuflippen. Diese Art Kommunikation des Ignorierens und Über-etwas-Hinweggehens wird nicht selten (in Firmen) bewusst praktiziert und hat zerstörerische Wirkungen für Sozialsysteme. Eine loyale Kommunikationsgemeinschaft funktioniert nur, wenn das, was vom anderen als wichtig reingegeben wird, hier immer als ein vollgültiger Beitrag bestätigt und gewürdigt wird. (Die Entwertung der Arbeit anderer birgt immer sozialen Sprengstoff.
4. Das Spiel der Meinungen in großen organisatorischen Kontexten
Die zunehmende Undurchschaubarkeit und Unübersichtlichkeit der Welt, das unaufhaltsame Aufblähen großer Organisationen und Konzerne begünstigen solche Prozesse der Entwertung und der Demontage des Codes ‚Wahr – Unwahr’. Sie sind deshalb für den einzelnen Menschen und für unsere ganze Welt ein riesiges Problem:
- Den meisten darin arbeitenden Menschen fehlt der Zugang zur jeweiligen Informationsbasis und der Überblick auf relevante Realitäten in vielerlei Hinsichten.
- Und was noch schlimmer ist, sie sind verführt dazu und gewöhnen sich daran, ihr Handeln mit dem Habitus großer Überzeugtheit auf eine ganz schwache Informationsbasis zu stellen.
Dem größten Teil der in den oberen Rängen arbeitenden Angestellten in Konzernen bleibt nicht anderes übrig, als auf dieser sehr schmalen und wackeligen Ebene der Meinungen zu agieren. Diese Unsicherheit darf aber nicht auffallen und jeder dort Arbeitende weiß, dass er dies mit einer bewusst zur Schau gestellten Sicherheit kaschieren muss.
Das Spiel der Meinungen kann hier ohne jeden Bezug zu relevanten Realitäten für die Kämpfe um die besten Plätze in der Hierarchie der Konzerne benutzt werden.
Es geht dann um heroische Entscheidungen, die nicht laufend neu reflektiert und korrigiert werden sollen, sonst kann nicht gemeinsam ‚marschiert’ werden. Darauf bauen Organisationen auf. Hierarchien bedingen dann zudem, dass nicht alle optimal über alles informiert sein können und auch nicht sollen. Je größer Organisationen sind, um so geringer ist die spezielle oder überblickshafte Kenntnis über Sachen und Personen. – Dennoch werden jedoch Äußerungen zu vielen Sachverhalten von den Beteiligten verlangt und das können nur passend gestaltete Meinungen sein.
5. Das Hauptthema: Wer liegt im Kampf der Meinungen vorne
Von Meinung reden wir also in organisationsbedingten Entscheidungskontexten meist dann, wenn das bewertende Kommentieren auf einer schwachen Informationsbasis erforderlich ist und die Kommunikation mit einem speziellen Code ‚stimme zu – stimme nicht zu’ darauf aus ist, herauszufinden, wie viele sich dem einen oder anderen Statement anschließen, damit es in großen Gruppen weitergehen kann. Das findet explizit in der Meinungsforschung und bei Wahlen seinen Niederschlag, weil hier etwas abfragbar und statistisch erfassbar sein muss.
An der gezielten Beeinflussung von Meinungen zu ihrem Gunsten sind verschiedene Gruppierungen in unserer Gesellschaft interessiert, und gerade dann, wenn die sichtbare Faktenlage gegen etwas spricht. Der ‚Kampf der Meinungen’ in Talkshows bietet sich dann zur Verschleierung der Informationslage und Verwirrung der ‚Gegner’ an. Deswegen werden hier auch wenig Sachverständige eingeladen und gehört. Warum? – Weil man ansonsten nicht so lange reden könnte.
‚Meinungsmacher’ können über die Herstellung von sogenannten ‚Meinungsbildern’ in den Medien gruppendynamisch noch einen Mechanismus nutzen: Weil der normale Alltagsmensch mangels direkten Zugangs zu Informationen nur auf sehr vage Einschätzungen häufig angewiesen ist, neigt er dazu, seine Unsicherheit durch die Orientierung in seiner sozialen Umgebung wettzumachen und schließt sich auf der Ebene der nicht zu komplizierten Meinungen liebend gerne einer Mehrheit oder Glanzprospekten an. – Das mediale Herbei-Reden von Trends hat hier bei anvisierten großflächigen ‚Meinungsverschiebungen’ einen hohen Stellenwert und funktioniert natürlich ohne fundierte Informationsbasis reibungsloser. Die Presseabteilung der Bahn leistet in letzter Zeit beste Medienarbeit.
6. Auf die Abläufe um das Großprojekt S 21 bezogen
Von der Bewegung gegen S 21 wurde über Jahre hinweg mit viel Einsatz versucht, auf der Ebene der Realitätswahrnehmung möglichst viele Informationen zu gewinnen, um der Allgemeinheit und der Stadt letztlich viel Schaden zu ersparen. Das sollte immer ein wichtiger Beitrag für das Gemeinwohl sein.
In der Schlichtung wurde von der Bewegung mit großem Aufwand eine möglichst große Informationsbasis geschaffen. Sie stellte damit eine von verschiedenen Fachleuten erarbeitete Faktenebene zur Verfügung, auf der eindeutig geurteilt werden konnte. Danach konnte man deutlich zu dem Schluss – nicht der Meinung – kommen, dass das Großprojekt viel zu viel Schaden und Risiken in verschiedenen Richtungen erzeugt. – Aber was passierte danach? –
7. Es kann und darf nicht auf der Meinungsebene lapidar weitergehen
Die durch den Fakten-Check mühsam erarbeitete Informationsbasis wurde schlichtweg ignoriert und man kommunizierte weiter auf der Meinungsebene, nach dem Motto: Jeder kann ja seine Meinung haben. – Hier eben nicht !! –
- Das Schlimme an dem Schlichterspruch war, dass er an der für jedermann offensichtlichen Faktenlage vorbei die Kommunikation über Meinungen wieder einläutete und den Medien das Beackern des weiten lukrativen Feldes des ‚Meinungsaustausches’ für ihre Talkshows erhalten hat.
Den Klagen der Befürworter, man dürfe zu Stuttgart 21 seine Meinung nicht mehr sagen, kann man nur beipflichten. – Die Situation ist nämlich in einem Sinne schon sehr außergewöhnlich: Jeder konnte sich nämlich bei dem öffentlich gesendeten Fakten-Check sachkundig machen. Jede Begegnung zwischen einem meinungsbeharrenden Befürworter und einem gut informierten Projektgegner muss deshalb zur Farce werden, weil die Kommunikation mit einer solch grundlegenden Ignoranz der Informationslage nicht weiter gehen kann.
- Der ansonsten lapidare ‚Kampf der Meinungen’ funktioniert hier wegen der Informiertheit der Bürger nicht mehr.
Die Presseabteilungen der Konzerne haben erst nach und nach kapiert, dass sie hier enorm aufrüsten müssen, weil sie nicht so ein leichtes Spiel haben wie bei Projekten auf der freien Wiese.
8. Organisationsmensch trifft auf Normal-Mensch
In Stuttgart ist nämlich über die lange Zeit der Bewegung eine außergewöhnliche Situation entstanden: Hier prallt die Mentalität der Konzern-Menschen mit völligem Unverständnis auf die Mentalität der noch selbständig denkenden und rundum informierten normalen Menschen, der auch Zweifel zulassen kann.
Gut funktionierende Organisations-(Konzern)-Menschen können keine Bedenken und Zweifel zulassen, weil man dann nicht mehr in einem Konzern zielgerichtet und karriereorientiert arbeiten kann. Man zieht etwas informationsgereinigt mit Scheuklappen bis zum bitteren Ende durch, die jeweiligen Schäden tragen andere, meist auch die Allgemeinheit, während man selber schon wieder weiter gezogen ist. Damit stellen nicht nur Konzerne an sich, sondern auch Züchtungen von Konzern-Menschen eine Gefahr für die Menschheit dar (erhellende Beispiele gibt es zur Zeit genug).
Wichtig zu erkennen ist jetzt, dass die Projektleitung von S 21 nicht nur einfach die verunsichernde und unangenehme Informationsbasis ignoriert, sondern gezielt versucht, alle Diskussionen weiter auf der Ebene der Meinung zu halten und hier die Kommunikationskanäle für notwendige Informationen zu verstopfen. Das ist auch das Terrain der Etikettenschwindler und Verkaufstrategen. Das ist aber eine andere Geschichte (s. gleichnamigen Aufsatz).
Dr. Robert Schmittmann
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