Stresstest Stuttgart 21 – falsche Prämissen, intransparentes Verfahren
Stuttgart, 21. Juli 2011: An der von der Deutschen Bahn in der nächsten Woche geplanten öffentlichen Vorstellung und Diskussion der Ergebnisse des Stresstests zum umstrittenen Bahnprojekt Stuttgart 21 wird das Aktionsbündnis nicht teilnehmen. „Wir stehen für eine öffentliche Schauveranstaltung über einen Alibi-Stresstest nicht zur Verfügung. Auch nach tagelangen internen Diskussionen mit Dr. Heiner Geißler und Vertretern der Bahn über die Prämissen des Stresstests konnte kein Einvernehmen über die Vorgaben und das Verfahren erzielt werden; unsere Bedingungen wurden in keiner Weise erfüllt. Unter diesen Voraussetzungen lehnen wir eine Teilnahme ab“, begründet Dr. Brigitte Dahlbender, Sprecherin des Aktionsbündnisses und Landesvorsitzende des Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) in Baden-Württemberg die Absage. Der Grundfehler der Bahn, die Experten des Aktionsbündnisses nicht von Anfang an an der Definition aller Vorgaben des Stresstests zu beteiligen, könne nicht geheilt werden. Seitens der Bahn fehle bis heute jeder Wille zur Kooperation auf Augenhöhe. Der Stresstest entwickele sich so zu einem „Weichspüler“ für ein untaugliches Bahnbetriebskonzept. Hannes Rockenbauch, Sprecher des Aktionsbündnisses und SÖS-Stadtrat, beklagt die mangelnde Transparenz seitens der Bahn. „Wesentliche Unterlagen, die zur Beurteilung des Stresstests unverzichtbar sind wie beispielsweise die Fahrplanrobustheitsprüfung oder die Auftrags- und Leistungsbeschreibung an den Gutachter SMA, wurden uns, entgegen der Zusagen der Bahn, vorenthalten. Auch wurde die ursprüngliche Zusage der Bahn, den direkten Kontakt zwischen dem Aktionsbündnis und dem Gutachter SMA zu ermöglichen, nachträglich wieder zurückgezogen.“ Die Strategie der Bahn, anfängliche Zusagen später immer wieder zurückzuziehen, sei unerträglich.
Klaus Arnoldi, Landesvorstand des Verkehrsclubs Deutschland (VCD) weist auf eine Vielzahl an fachlichen Mängeln und Schwachpunkten des Stresstests hin, die eine korrekte Beurteilung der Leistungsfähigkeit von Stuttgart 21 unmöglich machen. „Nicht akzeptabel ist die Trennung zwischen dem Stresstest und dem Notfallkonzept für die S-Bahn. In der Faktenschlichtung wurde beides gefordert – und nur eine gleichzeitige und integrierte Betrachtung beider Elemente kann Auskunft darüber geben, ob der geplante Tiefbahnhof auch für die betriebliche Praxis gerüstet ist.“ Zu kritisieren sei auch, dass die Untersuchungen der Bahn nicht den eigentlichen Definitionen eines echten Stresstests entsprechen. „Ein echter Stresstest muss kritische Zustände mit größeren Störfällen im Betrieb und Störungen auf längeren Strecken untersuchen, um die Grenzen des Systems jenseits des Normalbetriebs austesten zu können. Diesen Anforderungen genügen die vorliegenden Unterlagen der Bahn in keiner Weise. Dem Stresstest der Bahn liegen lediglich kleinere durchschnittliche Verspätungen zugrunde, die im Prinzip die heutige betriebliche Normalität widerspiegeln“, so Arnoldi. Das sei aber bestenfalls ein „Soft-Stresstest“, der mit der betrieblichen Praxis nur wenig zu tun hat.
Scharf kritisiert das Aktionsbündnis auch die dem Stresstest zugrunde liegende Fahrplankonzeption. „Die Bahn verabschiedet sich landesweit von einem integralen Taktfahrplan. Der geplante Fahrplan richtet sich fast im gesamten Land nach der im Stuttgarter Tiefbahnhof geplanten Infrastruktur. Dies hat zur Folge, dass zwar in der Spitzenstunde im Stuttgarter Hauptbahnhof vielleicht 49 Züge fahren können – dies aber zu Lasten der benachbarten Bahnknotenpunkte, beispielsweise Karlsruhe, Heilbronn oder Ulm, wo reihenweise gute Anschlüsse für die Fahrgäste verloren gehen“, erklären Dahlbender und Rockenbauch. Dies belege eindrücklich, dass Stuttgart 21 keinesfalls der vielversprochene Gewinn für das ganze Land sei. Ohne einen landesweiten integralen Taktfahrplan erweist sich Stuttgart 21 als Torso und als Rückschritt für den Schienenverkehr im ganzen Land.
Scharf ins Gericht geht das Aktionsbündnis auch mit der im Rahmen der Schlichtungsgespräche vereinbarten „guten Betriebsqualität“, die Stuttgart 21 erfüllen sollte, die der Stresstest aber nicht widerspiegelt. „Es ist unerträglich, dass die Bahn zwar eine gute Betriebsqualität zugesichert hat, nun aber nur einer ihrer Regelwerke entsprechenden wirtschaftlich optimalen Betriebsqualität dem Stresstest zugrunde legen will. Sachgerecht und dem Geist der Schlichtungsgespräche entsprechend wäre die in den Regelwerken definierte Premiumqualität – schließlich will der Fahrgast als König Kunde befördert werden und nicht als für die Bahn wirtschaftlich optimaler Beförderungsfall“, erklärt Arnoldi.
Egon Hopfenzitz, ehemaliger Leiter des Stuttgarter Hauptbahnhofs, vermisst im Stresstest einen sachgerechten Vergleich mit dem bestehenden Kopfbahnhof: „Der bestehende Kopfbahnhof kann viel mehr leisten als die heutigen 37 Züge in der Spitzenstunde. Ein ehrlicher Vergleich der Leistungsfähigkeit zwischen Stuttgart 21 und dem Kopfbahnhof müsste nach den gleichen Vorgaben und Prämissen des Stresstests erfolgen. Erst dann könnte unter Beweis gestellt werden, welches Konzept in der Praxis tatsächlich das bessere ist. 49 Züge sind heute bereits vom bestehenden Kopfbahnhof leistbar.“
Dr. Christoph Engelhardt, Experte des Aktionsbündnisses, sieht einen logischen Bruch in der Begründung des Tiefbahnhofs. Engelhardt stellt fest: „Wesentlichen Anteil an der Leistungssteigerung von 30 Prozent im Stresstest sollen signaltechnische Maßnahmen haben, die jedoch auch die Leistung des bestehenden Bahnhofs deutlich steigern würden. Der Stresstest erscheine insgesamt als praxisferne Rechenübung; da die Bahn die Grunddaten weitestgehend zurückhält, konnte dieser Eindruck nicht entkräftet werden.“
Dahlbender und Rockenbauch ziehen folgendes Fazit: „Kopfbahnhof 21 ist und bleibt die leistungsstärkere und kostengünstigere Alternative.“