Ein großer Schritt ist getan. Von Wolfgang Schorlau
Die Heiterkeit ist zu spüren. Immer noch herrscht eine wunderbare Leichtigkeit in der Stadt. Wir haben gewonnen! Das Volk siegte über die Regierung, nicht gerade der historische Normalfall.
Doch es ist nur ein Etappensieg. Gewiss ein wichtiger Erfolg, ohne den alles andere sehr viel schwieriger geworden wäre. Der Baustopp zeigt, dass der Wahlausgang Wirkung zeitigt.
Wie zu erwarten war, bläst nun jedoch die Industrie im Land zu einer neuen Kampagne für Stuttgart 21. „Konzerne dringen auf Bau von Stuttgart 21“, titelt Welt online bereits am 1. April. „Warnung vor einem finanziellen Desaster, sollte das milliardenschwere Bahnprojekt nicht realisiert werden.“ Das Schwäbische Tagblatt: „Der Stopp des Bahnprojektes Stuttgart 21 würde nach Einschätzung von Hugo-Boss-Chef Claus-Dietrich Lahrs die Wirtschaft im Südwesten empfindlich treffen. Stuttgart braucht einen modernen Bahnhof.“ Auch der Chef der IHK Stuttgart sucht die Öffentlichkeit. Die Stuttgarter Zeitung schreibt: Ein mögliches Ende von Stuttgart 21 – daran will Herbert Müller gar nicht denken. „Das wäre wirklich schlimm“, sagt der Präsident der Industrie- und Handelskammer (IHK) Region Stuttgart. „Für die Region ist das Projekt absolut wichtig.“
Die Manager tragen weniger Argumente als Interessen vor. Sonst wäre dem Boss-Chef Lahrs möglicherweise aufgefallen, dass es ja gerade das Anliegen der Stuttgarter Bevölkerung ist, einen modernen Bahnhof zu erhalten und zu ertüchtigen. Ob Stuttgart 21 jedoch „modern“ sein kann und ob es den normalen Bahnverkehr überhaupt mit der um die Hälfte reduzierten Gleiszahl bewältigen kann, ist unsicher, solange der Stresstest nicht erfolgt ist. Man kann nur hoffen, dass Claus-Dietrich Lahrs bei Boss Projekte anders plant und durchführt. Unvergessen ist auch der Beitrag des Eigentümers der Trumpf AG, Berthold Leibinger, für die Stuttgarter Zeitung: „Wir müssen Fakten anerkennen, wenn sie begründet vorgetragen werden. Ein Beispiel: es lässt sich mathematisch, durch die Anwendung von Ingenieurwissen, nachweisen, dass acht Gleise in einem Durchgangsbahnhof mehr Kapazität haben als 16 in einem Sackbahnhof.“ Nun kann man sich gut vorstellen, dass in seinem eigenen Betrieb der eine oder andere Arbeiter mit dem Kopf nickt, wenn Leibinger sagt, zwei und zwei sei fünf. Doch es wirft kein gutes Licht auf das eigene Ingenieurswissen, wenn man dergleichen öffentlich vorträgt. „Ja seht“, schreibt Heinrich von Kleist. „Zum Straucheln braucht’s doch nichts als Füße.“
Nein, die Argumente der Industrie sind so dünn, dass man annehmen muss, es geht in Wirklichkeit um etwas anderes. Bislang waren die Chefetagen es gewöhnt, dass die Landesregierung und das Parlament in Stuttgart eher mehr als weniger das beschlossen, was sie vorgaben. Sie verfügen über eine gewisse Routine im Beeinflussen von Regierungen, über eigene Abteilungen, über enorme Apparate und viel Geld. Nun aber mischen sich ganz normale Leute ein. Die Lobby versagt. Die Industrie fürchtet, dass sie nun nicht mehr den Ton in der Politik angeben kann.
Wir sollten daher die neue Landesregierung verteidigen, wenn sie von dieser Seite angegriffen wird. Vor allem aber sollten wir nicht vergessen, dass der Wechsel nur zustande kam, weil wir ihn erstritten haben und weil wir das Land, die Stadt, aber auch uns selbst in diesem Konflikt verändert und weiterentwickelt haben.
Die Industrie sammelt sich für die nächste, vielleicht die entscheidende Etappe. Vielleicht kippt Stuttgart 21 schon beim Stresstest. Wenn jedoch Grün-Rot schon im September einen landesweiten Volksentscheid ansetzt, müssen wir noch einmal alle Kräfte anspannen. Der Volksentscheid wird einer größere Anstrengungen bedürfen als der Sturz von Mappus, denn diesmal wird die SPD ihre Wähler aufrufen, gegen uns zu stimmen. Wir müssen daher erneut unsere Argumente kritisch und selbstkritisch reflektieren und sie nach außen vermitteln. Vor allem außerhalb Stuttgarts gibt es noch viele Menschen, die noch unentschieden sind. Es ist wichtig, dass wir uns einig sind. Denn bei einem möglichen Volksentscheid geht es wirklich um die Wurst.
Nachdem Wolfgang Schorlau 1966 in Freiburg im Breisgau eine Lehre als Großhandelskaufmann begonnen hatte, wurde er durch die Studentenbewegung der 1960er Jahre zunehmend politisiert. Er schloss sich der Lehrlingsbewegung an. In den sogenannten „Mittwochsschulungen“ lernte er die Schriften von Karl Marx kennen (auch wenn ihm deren Pathos am Anfang nicht gefiel). Auf seinem eigenen Marsch durch die Institutionen brachte Schorlau es bis zum Manager in der Computerindustrie. Im Alter von 50 Jahren erfüllte er sich seinen Traum vom Schriftsteller. Heute lebt und arbeitet er als freier Autor in Stuttgart.
• Quelle: 21EINundZWANZIG – Stuttgart 21 und die Landtagswahl (Wolfgang Schorlau)
• wikipedia.de – Wolfgang Schorlau
• Homepage von Wolfgang Schorlau